Matthias Nawrat: Reise nach Maine, Rowohlt Verlag, Hamburg 2021, 218 Seiten, €22,00, 978-3-498-00231-2
„Jetzt, da meine Mutter auch die zweite Woche für sich beanspruchte, meine Allein-Woche, war meine Vorfreude nur noch ein Konstrukt. Ich meinte plötzlich, dass ich sie nur empfand, weil meine Mutter sich das wünschte, es von mir erwartete. Ich hatte ihr etwas Gutes tun, ihr zeigen wollen, dass sie mir wichtig war. Aber sie hatte es geschafft, dachte ich, es in eine Pflicht umzuwandeln, ganz wie immer, wenn sie zu ihren Vorträgen anhob darüber, was Familie bedeutet, dass auch Verpflichtungen damit verbunden waren.“
Sommer 2018: Der Ich-Erzähler geht mit seiner Mutter, Celina, die Rentnerin ist, auf Reisen. Ihr Ziel: Eine Woche in New York. Eigentlich sollte die Mutter zu einem Freund nach Texas fliegen, aber durch dessen Absage, begleitet die Mutter ihren nun doch etwas ungehaltenen Sohn, der sich ausgetrickst fühlt, noch für eine Woche nach Maine. Niemand wolle, weder der Ich-Erzähler, noch sein Bruder, so die Aussagen der Mutter, mit ihr Zeit verbringen. Die Position der Leidtragenden jedoch wird die Mutter im Laufe der Reise erneut wieder aufnehmen, denn gleich bei der Ankunft in Brooklyn stürzt sie. Ihre Verletzungen im Gesicht erregen bei vielen fremden Menschen Aufmerksamkeit.
In den heißen Tagen des Sommers tragen Mutter und Sohn die immer gleichen Scharmützel aus, die durch die immer gleichen Verhaltensmuster provoziert werden. Sie behandelt ihn phasenweise fast so, als sei er noch Kind. Sie macht sein Bett, sie putzt, sie gibt Ratschläge. So fordert sie den Einundvierzigjährigen zu einem geregelten Leben mit Frau, Kindern und einem „richtigen“ Beruf auf. Er entwindet sich wie immer ihrer übergriffigen Art und ihren Ratschlägen. Auf der Reise treffen Mutter und Sohn unterschiedlichste Menschen, die sich den Fremden auf seltsam vertrauliche Weise offenbaren und von Scheidungen, Geldproblemen, Alkoholismus in der Familie und weiteren persönlichen Dingen erzählen.
Matthias Nawrat wählt in seinem gut lesbaren, autofiktional anmutenden Roman, denn unverkennbar ist der Autor identisch mit dem Erzähler in der Geschichte, der aus Osteuropa mit der Familie einst nach Deutschland kam, eine Reise, um über Zwischenmenschliches zu schreiben. Interessant sind aber auch seine Stadt- wie Naturbeobachtungen, seine Beschreibung von Sinneseindrücken und Gerüchen in Manhattan und später an den Küsten von Maine. Immer wieder kehren in den Gedanken des Autors Ausführungen zu seinem eigenen Beruf, auch seine Zweifel, und dem Schreiben selbst.
In der ruhigen Art auf alles, was die Mutter, die eigentlich im Zentrum der Reise steht, veranstaltet, zu reagieren, liegt die Stärke der Geschichte. Mag es auch zu Meinungsverschiedenheiten kommen, so genießt doch jeder die gemeinsamen Tage. Zu einer Annäherung zwischen Mutter und Sohn werden die Tage auf fremden Terrain nicht führen und doch bleibt eine gemeinsame Erinnerung und das ist vielleicht das Wichtigste.