Jonathan Coe: Mr. Wilder & ich, Aus dem Englischen von Cathrine Hornung, Filio Verlag, Wien 2021, 280 Seiten, €22,00, 978-3-99037-112-1
„Ich hatte eine Welt betreten, die noch vor Kurzem jenseits meiner Vorstellungskraft gelegen hatte. Es war eine Welt, in der die üblichen Regeln der Machbarkeit nicht zu gelten schienen. So war es zum Beispiel alles andere als einfach, von Korfu nach Lefkada zu gelangen – jedenfalls für normale Menschen.“
Die guten Zeiten im Filmbusiness scheinen für Calista, die Ich-Erzählerin und Komponistin für Filmmusik, vorbei zu sein. Seit gut zehn Jahren hat sie keinen neuen interessanten Auftrag mehr erhalten und auch ihr Mann unterrichtet an der Filmschule, da der Filmbereich für sie nicht mehr boomt. Immerhin sind die beiden in der BAFTA-Jury, aber auch da langweilen die aktuellen Produktionen.
Als sich Calista am Londoner Flughafen von ihrer Tochter Ariane verabschiedet, die fürs Studium nach Australien geht, blinken so einige Erinnerungen an ihre eigene Zeit, als sie so um die zwanzig war, auf. 1976 stand sie ebenfalls mit ihrer Mutter am Flughafen von Athen, um eine dreiwöchige Rundreise durch die USA zu beginnen. Zweisprachig aufgewachsen, Mutter Engländerin und Vater Grieche, kommt Calista in den USA zurecht. Richtig gut wird es allerdings, als sie Gill kennenlernt und durch sie in Kalifornien eine recht ungewöhnliche Bekanntschaft macht.
Gills Vater ist ein alter Freund von Billy Wilder und mit ihm, seiner Frau und seinem engsten Mitarbeiter und Freund Iz Daimond und Ehefrau sitzt sie nun völlig falsch angezogen in einem schicken Restaurant. Ohne zu ahnen, wer da vor ihr sitzt und ohne jegliche Kenntnisse über die Filme, die Wilder geschrieben und gedreht hat, trinkt die junge Frau einfach viel zu viel. Wilder arbeitet zu diesem Zeitpunkt an seinem Film „Fedora“ und trifft per Zufall an diesem Abend Al Pacino und seine Freundin Marthe Keller.
In einem unterhaltsamen Erzählton berichtet Calista nun wie sie in einem Zeitraum von zwanzig Jahren immer wieder mit Billy Wilder in Kontakt gekommen ist. Sie hat für ihn in Griechenland bei den Dreharbeiten für „Fedora“ gedolmetscht, war in München dabei und hat mit dem Regisseur, dem oft der Schalk im Nacken saß, ihre Leidenschaft für richtig guten Brie entdeckt.
In verschiedenen Erzählformen lässt Jonathan Coe seine fiktive Protagonistin an der wahren Biografie Wilders teilhaben. Mal erinnert sie sich an einzelne Episoden, dann gibt es Briefe, aber auch Monologe, die sie nacherzählt und die Wilder angeblich so geführt hat. In einem schildert er seine Rückkehr 1945 nach Deutschland, seine vergebliche Suche nach der Mutter und seine Arbeit an der Dokumentation über die Befreiung der Konzentrationslager. In diesen langen Erzählpassagen, die auch Wilders Flucht als Jude aus Deutschland umfassen, sein Leben in Paris und die Anfänge in den USA geht das Konzept des Romans nicht auf. Es scheint so zu sein, als müsste der Autor diese Informationen noch einfügen, um Wilder gerecht zu werden. In Erinnerungen an bestimmte Filme, insbesondere an die spitzen, wie hintersinnigen Dialoge, die er zu gern mit seinem Drehbuchschreiber Daimond in seinen Filmen untergebracht hat, schwelgt der gutmütige, großzügige, aber manchmal auch zu Streit aufgelegte Regisseur.
Die Mischung aus privaten Problemen der nun fast sechzigjährigen Calista und Wilders Alterswerk, das nun wirklich nicht mehr komisch zu nennen ist, hinkt ebenfalls in der Dramaturgie.
Warum muss sie mit dem ungewollten Kind ihrer jüngsten Tochter einen neuen Lebensabschnitt beginnen?
Als Filmfan jedoch oder Bewunderer des Lebenswerkes vom einzigartigen Billy Wilder muss nicht erklärt werden, warum der berühmte Regisseur, den auch die jungen Garde mit Steven Spielberg oder Martin Scorsese durchaus verehrt haben, sich dem Stoff von „Fedora“ zugewandt hatte.
„Und es ist tatsächlich ein Film geworden, der Mitgefühl für seine Charaktere zeigt: vor allem für seine alternden Charaktere, Männer wie Frauen, die versuchen, die Rolle für sich zu finden, in einer Welt, in der nur Jugend, nur das Neue zählt.“