Oliver Pötzsch: Das Buch des Totengräbers – Ein Fall für Leopold von Herzfeldt, Ullstein Verlag, Berlin 2021, 448 Seiten, €16,99, 978-3-86493-166-6
„Es gelang ihnen, im Schatten der Mauer ein wenig näher an die Menge heranzukommen. Leos Hand ging zu der Taschenbuchkamera, die im Innenfutteral seines Fracks steckte. Erst heute Nachmittag hatte er den winzigen Apparat für ein Heidengeld im Fotoatelier von Carl Pietzner gekauft.“
Alles beginnt ziemlich spektakulär. Kaum ist der junge Polizeiagent Leopold von Herzfeldt von Graz nach Wien gezogen, geschehen grausige Morde an Dienstmädchen. Der Täter schenkt den unbedarften Frauen Kettchen mit ihren eingravierten Vornamen, scheint ihnen ein besseres Leben in Aussicht zu stellen, lockt sie in dunkle Ecken des Praters, um ihnen dann die Kehle durchzuschneiden, sie zu pfählen und auf den Holzpfahl zu schreiben: „Herr, rette mich.“.
Mit Verve macht sie Leo, dessen Anzüge immer etwas zu elegant sind, mit neuen Ermittlungsmethoden an die Arbeit, ohne wirklich zu bemerken, wie er den altgedienten Inspektoren und vor allem Oberinspektoren auf die Füße tritt.
Besonders der dicke Oberinspektor Paul Leinkirchner ist nicht gerade vom „Juden“ Herzfeldt, der Hochdeutsch spricht, angetan, zumal dieser auch noch aus einer reichen Bankiersfamilie stammt. Immer wieder muss sich Leo als sogenannter „Piefke“ die üblichen Vorurteile anhören. Keine Frage, beide Polizisten hassen sich und werden doch am Ende gemeinsam den Fall mit Hilfe des Totengräbers Augustin Rothmayer lösen.
Dieser schreibt an einem Buch über die Toten und kann dabei auf die Hilfe des renommierten Pathologen Professor von Hofmann rechnen.
Der renommierte Autor von historischen Romanen Oliver Pötzsch zieht seine Leser und Leserinnen gekonnt in seinen Krimi, dessen Handlung kurz vor dem Ende des 19. Jahrhunderts spielt, hinein. Wichtig für das Geschehen ist der technische Wandel. Zum einen sind da die beachtlichen Neuerungen, wie das Automobil, das Telefon, der Phonograf oder die Fotografie, die viele mit Skepsis betrachten, Weiterhin verändern sich die Großstädte. Fabriken bestimmen das Stadtbild und somit auch Mietskasernen, in denen die Arbeiter, aber auch Dienstmädchen in engsten Wohnverhältnissen hausen. Wien als hoffnungsvoller Sehnsuchtsort für viele Menschen wird für manche zur herben Enttäuschung bis hin zur persönlichen Demütigung und sogar Todesfalle.
Nicht umsonst wird der Zentralfriedhof, weit außerhalb der Stadt, immer mehr erweitert, insbesondere der Teil für die Selbstmörder.
Doch ein Blutverbrechen wird das andere ablösen und sogar ein vorgetäuschter Selbstmord wird die Ermittler beschäftigen. Doch vieles bliebe im Verborgenen, würden nicht die neuen forensischen Methoden langsam bei der Polizei eingeführt werden. Leo schwört auf seine Kamera und seine schnelle Auffassungsgabe. Immer über das Ziel hinausschießend hat er zwar die Unterstützung des Polizeikommissärs Moritz Stukart, aber als der junge Ermittler dann auch noch bei der hochangesehenen Familie Strauss auf der Matte steht, gibt es wirklich Ärger. Allerdings hat sich der nicht gut angesehene Halbbruder Bernhard des viel geliebten Johann Strauss umgebracht. Seiner Leiche wurde kurzerhand der Kopf nach der Beerdigung entfernt. Doch was haben all diese Rituale, die Wiedergänger an der Rückkehr ins Leben hindern und vor allem zur Tötung von Vampiren dienen, mit der Familie Strauss zu tun? Als das vierzehnjährige Mädchen Anna dem Totengräber Rothmayer nicht mehr von der Seite weicht, er hatte ihre Mutter in einem Schachtgrab für die Armen beerdigt, und sie ein Bild von Strauss auf einem Notenblatt sieht, lüften sich langsam erschreckend grausige Geheimnisse in der besten Wiener Gesellschaft.
Leo, der durch seine forsche Ermittlungsweise mittlerweile aus dem Polizeidienst entlassen wurde,
beginnt mit der lebensklugen Telefonistin Julia Wolf, auch sie hat ihren Job bei Polizei verloren, allein auf Verbrecherjagd zu gehen. Beide ahnen kaum, dass sie in allen Fällen, ob es nun um den Pfahlmörder, den fingierten Selbstmord von Bernhard Strauss und die korrupte, amoralische Wiener Herrenoberschicht nur in den eigenen Reihen der Polizei nach den Tätern suchen müssen.
Oliver Pötzsch konstruiert gekonnt eine absolut spannende übersichtliche Handlung mit ambivalent gezeichneten Figuren. Atmosphärisch dicht beschreibt der Münchner Autor den nebligen, dunklen Herbst, die vielfältigen Ausdünstungen, speziell des Totengräbers und die Gerüche in den Wiener Gassen. In den fiktionalen Text mit noch heute bekannten Personen fließen historische Fakten ein, die die gut recherchierte Romanhandlung bereichern, ob es nun um die Entwicklung des Fahrrades oder den französischen Kriminalisten und Anthropologen Alphonse Bertillon geht, der damit begonnen hatte, anhand von elf Körpermerkmalen Verbrecheralben anzulegen.
Mit Genuss liest man immer wieder den Wiener Dialekt in den Dialogen der Figuren und freut sich auf einen hoffentlich weiteren Fall des Inspektors von Herzfeldt.