Stefan Boonen: Alles ohne Lena, Aus dem Niederländischen von Kristina Kreuzer-Hoffman, Oetinger Taschenbuch, Hamburg 2011, 125 Seiten, €8,95, 978-3-8415-0124-0
„Denken die vielleicht, dass es ein Handbuch gibt, mit Tipps, wie man sich verhalten muss, wenn die Schwester tot ist? Nein, nicht einfach nur tot. Vor einen Zug gesprungen.“
Zum Glück schaut kein traurig blickendes 17-jähriges Mädchenantlitz den Leser vom Cover entgegen. Wer dieses Taschenbuch öffnet, ahnt auf welche Lektüre er sich einlässt. Die Erfahrung einen nahen Menschen durch Unfall, Selbsttötung oder Krankheit zu verlieren, ist seit ein paar Jahren kein tabuisiertes Thema mehr in der Jugendliteratur. Und das ist auch gut so!
Lena hat sich vor einen Zug geworfen. Sie ist am Morgen losgelaufen, hat ihr Butterbrot noch gegessen und ist gesprungen. Unfassbar. Nichts deutete auf diesen Suizid hin. Lena war sprunghaft, verrückt, launisch, zickig, lebensfroh, nervig, dann wieder zutiefst betrübt – Gefühlsschwankungen, die auch ihre Eltern für normale Teenagergefühle gehalten haben. Als es wirklich schwierig war, holte sich die intakte Familie für kurze Zeit psychologischen Beistand. Liebesfreude und dann wieder Liebeskummer – alles schien im normalen Bereich zu sein. Bas, ihr jüngerer Bruder, hat noch nie so viel über seine Schwester nachgedacht. Er ist der Erzähler und Beobachter all der unbegreiflichen Ereignisse nach Lenas Freitod. Immer wieder fragen sich die Eltern, warum sie die Zeichen nicht erkannt haben. Welchen Grund das Mädchen hatte, ihr Leben einfach wegzuwerfen. Bas dreht die Worte immer wieder hin und her und erkennt, dass er mit dem Wort „verabschieden“ nichts anfangen kann, denn er kann seine Schwester ja nach einer bestimmten Zeit nicht wieder begrüßen. Wenn der Junge im Zimmer der Schwester sitzt, dann hört er ihre Musik, ihre Stimme. Bas fühlt Wut auf die Schwester und er hat Angst, dass nichts wieder so normal sein wird wie vor dem Selbstmord. Die Eltern beginnen Lena zu etwas zu stilisieren, was sie gar nicht war. Freunde und Freundinnen sind unsicher, wissen nicht wie sie auf die Trauernden zugehen sollen. Lacht Bas in der Schule, schauen ihn alle verunsichert an. Ist er ruhig und in sich gekehrt, nervt es die Mitschüler.
Bas fühlt sich am wohlsten, wenn er den alten Hund Mozart vom betagten Nachbarn, Herrn Wim, ausführen kann. Mit ihm kann er schweigen oder kann ihn mit allen seinen Erinnerungen und seinen widersprüchlichen Gefühlen für Lena zutexten. Der Hund schweigt und denkt sich seinen Teil.
Wie die Eltern es auch drehen und wenden, nichts kann sie über den Verlust der Tochter hinwegtrösten. Schon gar nicht die seltsame, so gestelzt geschriebene Mail, die Lena kurz vor dem Suizid abgeschickt hatte. „Ich denke, dass ich nicht für das Leben geeignet bin. Seid nicht böse.“
Der belgische Autor Stefan Boonen versucht, die unterschiedlichen Gefühlslagen aus der Sicht eines Jungen zu beschreiben, der seine Schwester verloren hat. Auch mit dem Wort „verlieren“ hat Bas so seine Probleme, denn er findet seine Schwester ja nicht wieder, wenn sie tot ist.
Ohne falsche Sentimentalität und Hoffnung liest sich diese Geschichte, über den plötzlichen Verlust eines nahen Menschen. Diejenigen, die zurückbleiben, schaffen es in Stefan Boonens Geschichte, den ersten, tiefen Schmerz zu überwinden und den Versuch zu starten, wieder als Familie miteinander klarzukommen – ohne Lena.
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