Eugen Ruge: Metropol, Rowohlt Verlag, Hamburg 2019, 432 Seiten, €24,00, 978-3-498-00123-0
„Die Menschen glauben, was sie glauben wollen. Betonung auf wollen. … Nein, der Glaube der Menschen hängt nicht von Fakten ab, nicht von Beweisen. Schlimmer noch – und das ist fast so etwas wie der zweite Teil der Erleuchtung, eine Steigerung: Man kann ihnen Fakten liefern, man kann sie widerlegen, es hilft nichts. Im Gegenteil, wer etwas glauben will, findet einen Weg!“
Familienthemen lassen Eugen Ruge nicht los, hat er nicht schon vor sieben Jahren in seinem Erfolgsroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ über seinen Vater, dessen russischer Frau und von einem Jubiläum geschrieben. Nun steht im Mittelpunkt seines neuen Romans seine Großmutter Charlotte, die mit ihrem zweiten Mann Wilhelm in der Komintern, in Moskau konspirativ tätig war. Sich an historischen sehr persönlichen und streng geheimen Unterlagen entlanghangelnd, versucht der Autor, die spezielle Lebenssituation der deutschen Kommunisten im Lande Stalins zu rekonstruieren.
Es sind die schwierigen Jahre 1936 und 1937, in denen die sogenannten Schauprozesse stattfanden. Öffentliche Anklageschriften wurden in den Zeitungen verbreitet und Charlotte, die inzwischen im Gegensatz zu Wilhelm, ganz gut Russisch gelernt hat, entdeckt mit Entsetzen, das ihr guter Bekannter, Alexander Emel, sich unter den ersten sechzehn Angeklagten befindet, die alle das sagen, wozu sie gezwungen wurden, erschossen werden. Angeklagt der Konterrevolution unter der Führung Trotzkis, wollten die sogenannten Volksfeinde angeblich Mordanschläge gegen Stalin u.a. höhere Kader verüben.
Auch aus der Sicht des obersten Richters der UdSSR, Wassili Wassiljewitsch Ulrich, kann der Leser sich ein Bild von der Gesellschaft des neuen Sowjetmenschen machen, der genauso kleinkariert, korrumpierbar, gierig und egoistisch war, wie jeder andere. Mürrisch und schlecht gelaunt sind alle Leute in Serviceberufen und vor allem die Beamten. Die Nomenklatura wird besser versorgt als der normale Sowjetbürger und Skrupel haben die neuen Machthaber in keiner Sekunde.
Kritik und Selbstkritik ist nun gefragt, denn Charlotte und Wilhelm werden von ihren Aufgaben freigestellt, suspendiert und von ihrer Stelle im Geheimdienst OMS ins Moskauer Hotel Metropol verfrachtet. Hier wohnen sie Tür an Tür mit Lion Feuchtwanger und müssen warten. Da sie nicht vom Hotel günstig verpflegt werden, muss sich Charlotte an endlosen Schlangen anstehen, um wie Otto-Normalbürger Lebensmittel zu besorgen.
Wilhelm strukturiert seinen arbeitslosen Tag, indem er in die Bibliothek geht, viel schläft und Charlotte Vorträge, über das hält, was er gelesen hat.
Auch Hilde, Wilhelms erste Frau, die ebenfalls beim Geheimdienst arbeitet, darf aus ihrer Sicht berichten. Sie hat, mit diesem Schreiben beginnt der Roman, mitgeteilt, dass die Germaines, so der Deckname von Charlotte und Wilhelm, Kontakt zu Emel hatten.
Grau ist dieses Moskau, von dem Eugen Ruge erzählt, einer misstraut dem anderen, niemand redet offen und wenn einer in Verdacht gerät, dann rücken alle extrem weit von ihm ab. Die viel gepriesene Solidarität hat unter Genossen keinen Wert, denn jeder möchte sein Leben behalten. Alle mussten die sowjetische Staatsbürgerschaft beantragen, wohin also sollten sie fliehen?
Wer heute der beste und treueste Anhänger von Stalin ist, kann morgen schon vor dem Richter stehen und egal, was er sagt, er ist schuldig. Unsicherheit, Angst und Opportunismus beherrschen die Bewohner in der vierten Etage im Metropol.
Zwischen Charlotte, die sich geistig ihrem Mann überlegen fühlt, und Wilhelm herrschen ebenfalls Spannungen. Wagt Charlotte zumindest in Gedanken Zweifel, an dem was in der SU vor sich geht, so folgt Wilhelm treu gläubig den Parteivorgaben. Die Stunde der Denunzianten ist da und sie wird gnadenlos genutzt. Kurzzeitig kann Charlotte als Volontärin und später Redakteurin bei der Verlagsgenossenschaft arbeiten. Sie glaubt sich entlastet und spürt doch auch dort Neid und Eifersucht. Dass jeder im Parteiapparat mit jedem zu tun hatte, ist klar. Wer nicht schnell genug, den anderen anzeigt, macht sich verdächtig. Ein Paradoxon. Gestreut wird das Gerücht, dass Stalin von allem ja gar nichts weiß. Wer es glaubt……
Wie durch ein Wunder überlebt die Ruges Großmutter und hält bis zu ihrem Tod am kommunistischen Unrechtsregime fest.
Im Nachwort erzählt Eugen Ruge von seinen Recherchen in Moskau und den fiktiven, wie wirklichkeitsnahen Szenen, die im Hotel Metropol und außerhalb spielen.
Wie ein Kammerspiel belauern sich die Menschen in diesen Jahren der Schauprozesse. Auch wenn die Sowjetmacht mit Gewalt vieles durchgedrückt hat, froh sind die Menschen nicht geworden.
Auch heute hat die Opposition einen schweren Stand. Wieder umkreist eine Person das Denken der Russen und wieder herrschen antidemokratische Kräfte und haben mit eiserner Hand das Land im Griff.
Warum frei denkende Menschen in den granitenen Dogmen der Partei Halt gefunden haben, bleibt auch nach der Lektüre dieses Romans ein Rätsel.