Anna Enquist: Denn es will Abend werden, Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers, Luchterhand Literaturverlag, München 2019, 285 Seiten, €22,00, 978-3-630-87604-7
„Wir sind allesamt auf der Flucht vor einer Scheißsituation zu Hause, denkt sie: wir sollte uns um unsere Nächsten kümmern, die sich mit Händen und Füßen dagegen sträuben.“
Als Hobbymusiker spielen Jochem, Carolien, Hugo und Heleen in einem Quartett bis zu diesem schicksalhaften Tag, an dem ein Krimineller sie überfällt, quält, verletzt und alle in ein Trauma stürzt. Heleen hatte mit dem Verbrecher Helleberg, der im Gefängnis saß, korrespondiert und in ihrer naiven Weltsicht geglaubt, wenn er die Musik des Quartetts hören würde, dass er dann zu einem besseren Menschen werden könnte. Doch genau das Gegenteil ist eingetreten, Carolien verlor ihren kleinen Finger, Jochem wurde heftig auf den Kopf geschlagen, Heleen hatte einen Beinbruch und Hugo keine Verletzung.
Anna Enquist erzählt nun aus den Perspektiven des Ehepaares Jochem und Carolien von den Geschehnissen nach der gewaltsamen Tat und wie beide mit diesem Einschnitt in ihre Leben umgehen. Später werden sie auch Heleen und Hugo treffen. Reagieren die eine mit Pragmatismus auf die qualvollen Erinnerungen, so erfinden sich die anderen neu oder fallen in einer extrem tiefes Loch.
Jochem arbeitet als Instrumentenbauer fast Tag und Nacht in seinem neuen Atelier, dass bewacht wird. Voller innerer Wut ist er von der Idee besessen alles abzusichern und zu beschützen. Er kauft sich eine Waffe und möchte auch gern das Familienhaus verkaufen, da es unsicher an einem Park steht. Als Carolien ein teures Cello von ihrem ehemaligen Lehrer, auch er ein Opfer des Überfalls, erbt, lässt Jochem das Haus zu einem mittelalterlichen Festung umbauen. Er ist auch sauer auf Carolien, die gegen ihre innere Leere und Verzweiflung nicht ankommt. Sie kann ihre Arbeit als Hausärztin nicht mehr aufnehmen. Sie hadert mit dem Verlust ihres kleinen Fingers, der ihr vom Täter gewaltsam entfernt wurde. Sie hadert mit allem, denn ihr wurde auch die Freude an der Musik genommen, da kann Jochem noch x-Mal behaupten, sie könne auch mit vier Fingern spielen.
Hugo hat nichts mehr von sich hören lassen bis zu dem Moment, wo er etwas von Jochem benötigt.
Auch er stürzt sich in die Arbeit und hat China für sich als Markt entdeckt. Hier organisiert er Konzerte und Hilfsaktionen. Als Carolien dann Heleen trifft, die ihr Leben völlig umgestellt hat und keinen Kontakt mehr zu den anderen möchte, entschließt sich Carolien zu einer Reise mit Hugo nach Shanghai, zum einen um Abstand zu gewinnen, zum anderen um zu überlegen, was sie mit ihrem Leben anfangen möchte. Auf dem chinesischen Festland trifft Carolien dann Max, einen Kinderarzt, der sich gerade für behinderte und verlassene Kinder einsetzt. Bevor Carolien hoffen kann, dass er sie aus ihrem Tief herausholt, ist er auch schon entschwunden. Auch Max läuft vor sich und seiner eigenen privaten Katastrophe davon.
Alle Protagonisten fliehen von den inneren Dämonen und finden doch keine Lösungen.
Am Ende steht der Prozess gegen Helleberg, der den vieren als Zeugen Frieden oder neue Verzweiflung bringen wird.
Keine leichte Lektüre, doch wer den Vorgängerband „Streichquartett“ gelesen hat, muss sich erneut mit diesen vier Menschen auseinandersetzen und ihnen auf ihren Wegen weiterhin folgen.