Elizabeth Strout: Alles ist möglich, Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth, Luchterhand Literaturverlag, 256 Seiten, €20,00, 978-3-630-87528-6

„Und Pete begriff mit einem Mal, dass das, was sie nicht packte, das Haus war, oder Amgash, dass sich in ihr ein Abgrund der Angst aufgebaut hatte, so wie bei ihm, als er in der Stadt zum Friseur gegangen war, nur klaffte Lucys Abgrund noch viel, viel tiefer.“

Von Anbeginn erscheint in fast jeder dieser Kurzerzählungen, die alle im Mittleren Westen spielen, der Name von Lucy Barton. Sie hatte es geschafft. Sie ist aus ärmlichsten Verhältnissen, trotz Ausgrenzung und Missachtung ihrer Familie durch die eigene Nachbarschaft, in den Reigen der erfolgreichen Schriftsteller aufgestiegen, die nun in New York leben und arbeiten. Als sie jedoch in ihren Heimatort auf einen Besuch zu ihrem verängstigten Bruder und ihrer äußerst gehässigen Schwester zurückkehrt, ereilt sie eine Panikattacke. Plötzlich kann sie ihr Elternhaus nicht mehr ertragen, das Wissen um die lieblose, brutale Mutter, die so vieles in den Seelen der eigenen Kinder zerstört hat. Sind es die grausigen Erinnerungen, die Schwester Vicky hervorkramt oder allein die Erbärmlichkeit des schmutzigen Hauses? Dabei hatte Pete, der Bruder, doch geputzt. Die aufgedunsene Vicky hält ihr vor, dass sie fortgegangen ist und schämt sich nicht mal, von ihr auch noch Geld anzunehmen. Gemeinsam fahren die Geschwister die berühmte Schwester Richtung Chicago, einem Ort, vor dem Pete mehr als graust. Auch wenn Lucy Barton einst verbreitete, Literatur müsse der Wahrheit nahestehen, so kann sie die Wahrheiten über ihre eigene Herkunft nicht ertragen.

Elizabeth Strout verwebt ihr eigenen biografischen Details mit der Figur der Lucy Barton. Bereits in „Die Unvollkommenheit der Liebe“ hat sie sich mit ihrer Mutter auseinandergesetzt.
Jetzt erzählt sie von Menschen, die in Illinois zwischen Sojabohnen- und Maisfeldern leben. Sie sind Farmer, Lehrer, einstige Soldaten oder Hausfrauen, die ihre Männer nach über fünfzig Jahren Ehe verlassen haben.

Nach dem Short-Cuts-Prinzip umkreist die Autorin die Geschichte ihrer Figuren, die aus anderen Perspektiven wieder auftauchen oder nur kurz in die jeweiligen Handlungen eingreifen.
Da ist Patty Nicely, eine sympathische den Kindern zugewandte Lehrerin, die von Medikamenten aufgeschwemmt unter der Hitze des Sommers leidet. Sie hatte einen gütigen Mann geheiratet und nur acht Jahre mit ihm gelebt, bevor er starb. Sein Stiefvater hatte ihn unsäglich gedemütigt und diese Last bringt er in die Ehe mit. Aber Patty liebte ihn innig. Nun muss sie sich von Vickys pubertären Tochter Gemeinheiten anhören, die sie tief kränken. Und da ist Charlie Macauley, der seine Frau nicht mehr ertragen kann, die sich in alles einmischt und einfach keinen Schritt allein gehen kann. Er flieht nicht zu Patty, die ihn wirklich mag, sondern zu einer verlogenen Prostituierten, die ihm Liebe vorgaukelt, um ihn eigentlich auszunehmen. Und da ist Angelina, Pattis beste Freundin, die nicht akzeptieren will, dass ihre 78- jährige Mutter im fernen Italien ein spätes Glück mit einem jüngeren Mann genießen kann. Die Auseinandersetzung zwischen Müttern und Töchtern bleibt ein Lebensthema der Autorin. Aber es geht auch um Männer, die an einem Trauma leiden, verursacht durch ihre Zeit im Zweiten Weltkrieg oder in Vietnam.

Eine Geschichte nach der anderen zeugt von ganz normalem Leben im Mittleren Westen, erzählt in einer konzentrierten Sprache ohne falsche Sentimentalität noch Mitleid.