Annette Hess: Deutsches Haus, Ullstein Verlag, Berlin 2018, 366 Seiten, €20,00, 978-3-550-05024-4
„Das Lager begann, ihr auf eine unerhörte Weise vertraut zu werden: die Blöcke, die Abteilungen, die Abläufe. Zu Hause hatte sie niemanden, mit dem sie darüber sprechen konnte. Ihre Eltern und Annegret wollten vom Prozess nichts hören. Selbst die Artikel, die fast jeden Tag in der Zeitung darüber erscheinen, überblätterten sie.“
Das Leben geht weiter, Gänsebraten mit Rotkohl wird serviert. Man soll die Vergangenheit doch ruhen lassen, Schlagermusik von Peter Alexander hören und froh sein mit dem, was man hat. Der deutsche Mann ist der Ernährer der Familie und sorgt und entscheidet für seine Frau, die natürlich nicht arbeiten gehen muss. Die guten 1960er Jahre haben begonnen und bestimmte Querulanten in der Staatsanwaltschaft, versuchen angesehene Bürger des Landes in den Dreck zu ziehen. Es werden nur Lügen verbreitet und die sogenannten Zeugen, die sowieso nicht glaubwürdig sind, wollen nur Geld abzocken und Entschädigungen erpressen. So die gängige, eindimensionale Meinung vieler Deutscher, die dem Auschwitz-Prozess skeptisch gegenüber standen. Die Kollektivschuld schloss alle mit ein, egal was sie sich wirklich an Verbrechen zu schulden haben kommen lassen.
Doch die Auschwitz-Prozesse von 1963 bis 1965 veränderten diese Sicht und stellten einen Wendepunkt in der Auseinandersetzung mit dem Nazi-Regime dar.
Hier setzt Annette Hess‘ fiktiver Roman mit dem Handlungsort Frankfurt am Main ein, der keine historisch verbürgten Personen namentlich erwähnt. Im Nachwort allerdings verweist die Autorin auf ihre Quellen, Archivmaterial und Hilfe von den Mitarbeitern des „Fritz Bauer Instituts“.
Die junge Eva Bruhns arbeitet für eine Agentur als Dolmetscherin für Polnisch. Sie hofft auf eine Ehe und vielleicht auch einen gesellschaftlichen Aufstieg mit Jürgen Schoormann, den Inhaber eines gutgehenden Versandhauses, der eigentlich Priester werden wollte. Da der Vater jedoch an Demenz erkrankt ist, muss er nun das Geschäft übernehmen. Evas Familie führt das Gasthaus „Deutsches Haus“, der Vater ist der Koch, die Mutter bedient. Evas ältere Schwester Annegret arbeitet als Säuglingsschwester und ihr Bruder Stefan spielt noch mit seinen Soldaten. Als Eva die Zeugenaussagen im anstehenden Prozess im Bürgerhaus übersetzen soll, raten ihr alle von dieser Tätigkeit ab. Angeblich habe sie ein zu schwaches Nervenkostüm. Aber Eva ist nicht so zart wie alle behaupten, sie kann sich durchsetzen und sie kann, auch wenn sie mal ihr Wörterbuch benutzen muss, die wirklich grausigen Erzählungen der Menschen aus Polen verkraften. Über ein Jahr zieht sich die Handlung des Romans, der zu Beginn eine junge Frau zeigt, die sich in ihrer Familie und ihrer Haut sehr wohl fühlt. Am Ende wird diese Familie zerbrochen sein und Eva wird sich von ihr distanzieren, denn jeder, außer der kleine Bruder, hat Schuld auf sich geladen. So wie die Angeklagten, die nur feixend oder empört auf die Zeugen reagieren, müssen sich die Eltern von Eva vor den eigenen Kindern rechtfertigen. Auch sie behaupten, wie „die Bestie“ oder die anderen Naziverbrecher, dass sie nichts gewusst hätten oder sich an nichts erinnern könnten. Eine klägliche Aussage, die Eva einfach nicht hinnehmen kann.
Keine Frage Annette Hess kann unterhaltsam erzählen, lebendige Szenen erfinden, die dem Leser die handelnden Figuren klar vor Augen führen. Dabei stehen die Menschen im Roman exemplarisch für bestimmte stereotype Charaktere, die in ihrer Zeit so agierten und wie viele sicher gedacht und gelebt haben.Annette Hess hat mit „Deutsches Haus“ ihren Debütroman vorgelegt, ist allerdings als Autorin bekannt durch die populären Fernsehserien „Weißensee“ und „Ku’damm 56“. Auch hier hatte sich Annette Hess ein bestimmtes Kapitel der deutschen Geschichte vorgenommen und es trotz historischem Hintergrund und Ernst unterhaltsam und mit lebendigen wie widersprüchlichen Figuren auf die Leinwand gebannt. In Interviews sagte Annette Hess, dass sie ihr neues Thema, die Auschwitz-Prozesse, nicht für das Fernsehen schreiben wollte. Es sollte in ihrer Regie, ohne die Einmischung von Redakteuren, vor dem inneren Auge des Lesers ablaufen. Das ist ihr auf jeden Fall gelungen.
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