Günther de Bruyn: Der neunzigste Geburtstag, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2018, 269 Seiten, €22,00, 978-3-10-397390-7

„Die elegante Lockerheit, mit der er das lange Leben der Jubilarin mit kritischen Gedanken über die Fehlentwicklungen der letzten Jahre hatte verbinden wollen, war ihm beim Formulieren abhandengekommen, seine Glossen waren zu Thesen erstarrt. Witzig hatte er darstellen wollen, wie die Meinungsmacher jede ihnen nicht passende Meinung im Namen der Meinungsfreiheit zu unterdrücken versuchten, unserer Sprache die Schönheit und Verständlichkeit nehmen und uns lehren wollen, fremde Kulturen höher als die eigene zu achten, aber geraten war ihm das alles nicht witzig, sondern nur bitterernst.“

Leonhardt Leydenfrost ist der jüngere Bruder der künftigen Jubilarin, Dr. Hedwig Leydenfrost, die als Kinderärztin in Hamburg gearbeitet hatte, politisch aktiv war und noch heute ihre gute Rente an alle möglichen Hilfsorganisationen verteilt. In einem Jahr wird sie ihren neunzigsten Geburtstag feiern.
Aus des Sicht des konservativen und leicht knurrigen Leos verbringt der Leser nun ein Jahr in der ländlichen brandenburgischen Idylle von Wittenhagen. Hierher sind die beiden Geschwister, die den Großteil ihres Lebens im geteilten Deutschland verbracht haben, in die Familienvilla zurückgekehrt, die sie jedoch nur mit dem Geld ihres Bruders Eckhardt, der wie Hedwig im Westen lebte und diese Unterstützung aus der Portokasse bezahlte, leisten können. Leo entschloss sich nach der Wende, seiner geliebten Bibliothek in Berlin den Rücken zu kehren und für die Frühverrentung, da ihm die Kollegen signalisierten, dass er mit dem technischen Fortschritt nicht mehr mithalten könnte. Auch Hedwig zog es mit dem Alter in die Heimat. Neben den beiden nicht bitterbösen aber doch andauernden im Zank lebenden Alten wohnt noch Leos Tochter Wilhelmine mit ihrem fast volljährigen Sohn Walter im großen Haus. Auch Fatima Müller, die Ziehtochter von Hedwig gehört zur Familie. Auch Wilhelmine pflegt mit ihrem alten Vater keinen harmonischen Hausfrieden. Sie wirft ihm oft vor, dass er sie und ihre Schwester Luise zugunsten des Sohnes Rainer vernachlässigt hätte. Leo macht kein Hehl daraus, dass er seine Mädchen nie mit Büchern vor der Nase sah und nun auf den Sohn hoffte. Dieser allerdings kehrte dem Vater so radikal den Rücken, dass bis heute kein Kontakt mehr herrscht. Voller Reue und Selbstkritik erkennt der Vater an, dass die Tochter recht hat, denn er mehr als alles neben dem Sohn seine Frau Maria geliebt, die nun schon lang tot ist.

In der Erinnerung lebend begibt sich der literaturverliebte Leo, der seine magere Rente eher für Bücher ausgibt und seinen Lenau, Storm, Möricke, Rilke und Goethe immer noch im Kopf hat, wenn die Dorfstraße passierbar ist, zum Friseur, um dort am letzten Ort des Gedankenaustausches, ein bisschen Klatsch und Tratsch zu hören. Der Pfarrer ist seit zwei Jahren verstorben, eine Kneipe gibt es längst nicht mehr. Das 200 Seelen Dorf dämmert so vor sich hin und wer das Weite suchen kann, ob in Potsdam oder der Welt, der geht fort. Und so lebt Leo jedes Mal auf, wenn sich mal ein jüngeres Gesicht, wie z.B. eine freie Journalistin, eine Politikerin oder eine neue Pfarrerin im Ort sehen lassen. Aber schnell kippt diese Begeisterung in Missstimmung um, denn Leo muss sich oftmals Belehrungen anhören, die ihn zutiefst kränken. Jeder scheint ihm sagen zu dürfen, einschließlich seiner Tochter, dass er, was ja klar war, rechts sei, nicht offen für das neue Denken und die wirtschaftliche Bedeutung der neuen Mitbürger. Die „Verstocktheit der Ost-Seele“ bleibt in der Kritik. Niemand will seine dezidierte Meinung hören, auch nicht Hedwigs Ansichten, die auch noch zu einem Parteijubiläum eingeladen wird, und der dies alles zuwider ist.

„Alles war sauberer, moderner, vielleicht auch schöner geworden, Hedwig aber war es fremd geworden, als habe sie zu lange gelebt.“

Im Dorf geblieben sind nun nur die Alten und die Geschäftemacher, wie der gute Bekannte und Arbeitgeber von Wilhelmine Hoffmann. Seine dubiose Vergangenheit in der DDR und seine Verbindung zu Leos Sohn, der offenbar an höchster Stelle im Ministerium für Staatssicherheit tätig war, stimmen Leo eher vorsichtig. Hoffmann, der sich als umtriebiger Landwirtschaftsexperte wohl einen Namen gemacht hat, ist es auch, der mit öffentlichen Mitteln gestützt sich mit seiner Firma für Geflüchtete einsetzt. Im Ritterstall sollen sie in Wittenhagen wohnen. Hedwig möchte zu einen Verein gründen, damit sie Spenden für die Flüchtlingskinder sammeln kann. Man ist übereingekommen, dass sich Flüchtlingskinder für die Ohren der möglichen Spender gut anhört. Auch soll niemand zum 90. Geburtstag Geschenke mitbringen, sondern Geld für den Verein spenden. Dass die sogenannten Kinder aus Afghanistan und Syrien eher minderjährige Jugendliche oder auch möglicherweise schon erwachsene Männer sind, hat man Hedwig nicht mitgeteilt. Dass die Begeisterung der Wittenhagener nicht sonderlich groß ist, darf auch gesagt werden. Aber alles kommt ganz anders. Am Tag des Einzugs lässt sich niemand sehen. Die künftigen muslimischen Mitbürger zieht es eher nach Berlin oder in Regionen mit mehr Arbeitsmöglichkeiten. Für Hoffmann eine gute Gelegenheit, seine Hotelpläne in die Tat umzusetzen.

Der 92-jährige Günter de Bruyn legt die Beschreibungen der Gebrechen des Alters, die Reflexionen über vergangene Jahre und die sich tief eingebrannten Erinnerungen in Leos Mund, lässt ihn seine Sicht auf die Gegenwart zumindest in Gedanken, aus Leos schriftstellerischen Aktivitäten wird nichts, dem Leser in einer wunderbaren Sprache mitteilen. Mit dem Blick zum Wetter und in die flache Landschaft beginnen die Kapitel, denen Naturschilderungen der märkischen Heimat folgen, dabei war doch Maria, Leos Ehefrau, diejenige die jede Pflanze kannte. Der Autor hat einen verblüffenden Altersstil, einst an Theodor Fontane geschult, entwickelt als fortwährende Verfeinerung, die der Sprache gleichwohl nicht die Kraft nimmt, sondern sie nur stetig intensiver leuchten lässt. Herrlich schrullig amüsant sind die Auseinandersetzungen, die Leo über die Verunglimpfung der Sprache führt, dabei ist der politisch korrekte Gender-Fanatismus ein Aspekt. Mahnend die Angst, dass es immer weniger Leser künftig geben wird. Alte Seilschaften profitieren von neuen Strukturen und gelangen zu vorübergehendem Erfolg. Der Autor, der sich mit Romanen wie „Buridans Esel“ oder „Neue Herrlichkeit“, aber auch Biografien einen Namen gemacht hat, thematisiert in diesem Roman seine Vorbehalte gegen politische Bekundungen. Mit Ironie und Sarkasmus blickt Günter de Bruyn auf die gesellschaftlich politischen Geschehnisse, auf den unsensiblen Umgang mit alten Menschen und ihre Lebensleistungen und der zunehmenden Spaltung der deutschen Gesellschaft, die einfach nicht mehr zu übersehen ist.