Delphine de Vigan: Loyalitäten, Aus dem Französischen von Doris Heinemann, Dumont Buchverlag, Köln 2018, 175 Seiten, €20,00, 978-3-8321-8359-2

„Trinken war ein Spiel. Anfangs. Ein heimliches Spiel für sie beide. Jetzt jedoch denkt Théo an nichts anderes mehr.“

Das Wort „loyal“ ist eigentlich positiv besetzt. Wer loyal ist ist treu, zuverlässig und einer Sache ohne wenn und aber zugewandt. Doch was ist, wenn Loyalität ins Negative umschlägt? Kinder verhalten sich ihren Eltern gegenüber ganz instinktiv loyal, was auch immer diese veranstalten. Erwachsene haben die Wahl, sie können loyal sein, müssen es aber nicht.
Mathis und Théo sind bald dreizehn Jahre alt. Schnell sind sie an der neuen Schule zu unzertrennlichen Freunden geworden, wobei Mathis‘ Mutter Cécile nicht sonderlich von dieser Freundschaft angetan ist. Théo erscheint ihr zu verschlossen, irgendwie unsympathisch. Nie geht Mathis zu Théo nach Hause, weder zu seinem Vater noch zu seiner Mutter. Théos Eltern sind seit gut sechs Jahren getrennt und der Junge lebt eine Woche bei der Mutter und eine Woche beim Vater.
Hélène, die Lehrerin der Jungen, bemerkt, dass Théo sich immer mehr in sich zurückzieht, zu oft müde ist, sich nur kurz konzentrieren kann und sich jeglicher Aufmerksamkeit entzieht.
Aus verschiedenen Blickwinkeln schaut die französische Autorin Delphine de Vigan auf die Geschehnisse. Cécile erzählt aus der Ich-Perspektive, alle anderen Théo, Mathis und Hélène aus der Er-Perspektive. Schnell wird klar, diese Geschichte läuft wie ein Kammerspiel auf eine Katastrophe zu.
Wie in einer Zwickmühle fühlt sich Théo, der zwischen seinen Eltern geradezu zerrieben wird. Théos verbitterte Mutter, die ihren Sohn nicht mehr in den Arm nehmen kann, arbeitet als leitende Angestellte. Wenn Théo nach der Woche beim Vater zurückkehrt, kann sie seine Anwesenheit kaum ertragen. Sie fordert ihn auf zu duschen, als wäre so der Geruch der Woche abgewaschen. Sie ahnt nicht, dass ihr Ex-Mann seit zwei Jahren arbeitslos ist, an manchen Tagen das Bett kaum verlassen kann, über wenig Geld verfügt und somit auch Klassenausflüge für Théo nicht bezahlen kann. Der Junge unterstützt den Vater nach seinen Möglichkeiten, er lügt aus Loyalität dem Vater gegenüber seine Lehrer an. Niemand, vor allem die Mutter darf nicht wissen, wie miserabel es dem Vater geht.
Die Lehrerin Hélène, die selbst als Kind schwer vom eigenen Vater misshandelt wurde, spürt die Not des Kindes und kommt auch nach einem Gespräch mit der Mutter von Théo nicht weiter. Es gibt keine persönlichen Angaben zum Vater, auf die die Schule in einem Notfall zurückgreifen könnte. Als Besessenheit bezeichnen die Kollegen Hélènes Fixierung auf den Jungen, der immer dünner und müder wird, der die Sportsachen vergisst und von der Sportlehrerin vor allen Kindern gedemütigt wird. Hélène verliert alle Loyalität unter Kollegen und kritisiert die Sportlehrerin mitten im Unterricht.

Unbemerkt verliert sich Théo immer mehr im Rausch des Alkohols, denn der Pakt des Stillschweigens, den er sich aufgeladen hat, belastet ihn unsäglich. In ihrem Versteck in der Schule, Mathis klaut der Mutter Geld, trinken die beiden Jungen. Auch Mathis will loyal sein. Längst hat er keine Lust mehr auf die sinnlose Trinkerei, doch Théo braucht dieses besinnungslose Versinken und Mathis ahnt, Théo spielt mit seinem Leben.

Wie immer haben die Erwachsenen nur mit sich zu tun. So entdeckt Cécile, die Hausfrau mit wenig Bildung, beim zufälligen Blick ins Arbeitszimmer ihres Mannes, dass er, der so hochgebildete in seiner Freizeit das Internet mit seinen Hasskommentaren in einer unsäglichen Fäkaliensprache füllt.
Was ist mir ihrer Ehe geschehen? Warum findet kein soziales Leben mehr statt?
Je länger der Leser sich in die Texte vertieft, um so abgründiger erscheinen die näheren Umstände und Konflikte der Figuren.

Die Kinder suchen sich ihr eigenes Ventil, um aus ihren Gewissenszwängen zu entfliehen.
Es ist nicht nur die gestörte oder nicht stattfindende Kommunikation zwischen Erwachsenen untereinander und mit den Kindern, die die Konflikte verursacht. Es ist die Empathielosigkeit dem Leben anderer gegenüber, von Hélènes Engagement mal abgesehen, das sogar zu ihrer Beurlaubung führt, die so erschüttert. Aber auch Hélène hat ihren sie so brutal schlagenden Vater nicht verraten, sie war genauso loyal wie Théo.
„Manchmal denke ich, das Erwachsenwerden ist nur dazu da: die Verluste und Schäden der Anfänge zu reparieren. Und die Versprechen des Kindes zu halten, das wir gewesen sind.“

Als Cécile wirklich registriert, dass ihr Sohn gemeinsam mit Théo, der natürlich alle Schuld trägt, hochprozentigen Alkohol trinkt, will sie nur, dass Mathis seinen Freund nicht mehr sieht.
Mit ihren eigenen Selbstgesprächen rund um die Uhr beschäftigt, wirkt sie auf die anderen wie eine Verrückte. Auch Cécile gibt ihre Loyalität ihrem Mann gegenüber auf und sagt ihm auf einer Party, was sie von ihm denkt. Gnadenlos blickt die französische Autorin analytisch in die Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen.

Die Aufzeichnungen von Delphine de Vigan lesen sich flüssig, sind jedoch schwer zu ertragen. Wenn man könnte, würde man die depressiven und verbitterten Eltern von Mathis und Théo am liebsten schütteln, ihnen ins Gesicht brüllen, das sie endlich erwachsen werden und die Verantwortung für ihr Kind übernehmen sollten.

Am Ende bleibt nur ein einsames Kind und ein offenes Ende.