Kristine Bilkau: Eine Liebe, in Gedanken, Luchterhand Literaturverlag, München 2018, 253 Seiten, €20,00, 978-3-630-87518-7
„Sie will nicht die Wartende sein, die Ungeduldige, aber was soll sie dagegen tun, sie wartet und ist ungeduldig. Sie versteht nicht, und er schrieb ihr ja auch nicht, was ihn davon abhält, ihr den Flugschein zu schicken. Damit sie endlich ihre Unterlagen für das Visum einreichen kann, damit sie weiß, wie es weitergeht.“
Tonis Tochter ist überrascht, als die Nachricht kommt, ihre Mutter ist verstorben, wahrscheinlich im Schlaf. Wie ein roter Faden durchzieht nun das langsame Ausräumen der Wohnung und der Umgang mit dem Nachlass der Mutter die Geschichte. Nach und nach setzt die Autorin ein Bild von Tonis Mutter zusammen, einer jungen, lebensfrohen, ja auch unkonventionellen Frau, die an der Ostsee, in der Flensburger Förde, mit einer verbitterten und enttäuschten Mutter und zwei Geschwistern groß geworden ist. Frei wollte Toni leben, unabhängig sein und eigenständig. Als sie Edgar Mitte der 1960er Jahre kennenlernt, scheint er, der besonnene, kultivierte und ehrgeizige Mann, der richtige fürs Leben zu sein.
Noch wohnt Toni bei ihrer sittenstrengen Untermieterin, noch ist alles im Werden.
Auch Tonis Tochter erinnert sich an die immer wieder erzählten Geschichten der Mutter, besonders an die von Edgar. Immer im Spätsommer fährt die Mutter am Haus Edgars vorbei, dann ist er aus der Ferne zurückgekehrt. Doch sie hat keinen Kontakt mehr zu ihm. Einmal noch, nach vierzig Jahren, hat sie wiedergesehen und gesprochen. Doch auch dieses Treffen hat nichts gebracht.
In Rückblenden blättert sich langsam die Liebesgeschichte von Toni und Edgar auf. Er schreibt Briefe und Karten, wenn sie getrennt sind. Sie akzeptiert, dass er bereits Vater ist, seinen Sohn jedoch nicht großzieht. Sie beginnt ihre viel versprechende berufliche Karriere und mietet eine kleine Dachwohnung. Sie reist als zweite Assistentin und schlägt, wenn sie dann mal Geld hat, gern über die Stränge. So findet die Tochter sogar in den Papieren der verstorbenen Mutter einen Haftbefehl, dessen Ursache eine Summe knapp unter 400 Euro ist, die die Mutter wohl nicht zahlen wollte.
Zweimal wurden die Ehen der Mutter geschieden, bis sie beschlossen hatte, nur für sich zu sein. Die Hoffnung auf den Mann, für den sie alles aufgegeben hatte, begleitet sie bis ins hohe Alter.
Die Welt schien für Toni und Edgar offen und so bestärkte sie ihn, sich eine berufliche Karriere in Hongkong aufzubauen. Nach Monaten erreichte sie dann ein Telegramm mit der Nachricht, sie solle alle Brücken abbrechen und zu ihm reisen. Toni folgte diesem Ruf, fühlte sich verlobt und wartete auf das Flugticket, das nie gekommen war.
Nach dem Tod der Mutter hat die Tochter nur einen Wunsch, sie will mit dem geheimnisvollen Edgar reden, ihn sehen, wenn sie ihm die Nachricht bringt. Wird er ihr eine Antwort auf ihre Fragen geben, warum er ein Telegramm, aber keinen Flugschein geschickt hat, warum er auch später, als er Erfolg hatte, die Beziehung nie wieder aufgenommen hat.
Betrachtet die Tochter das Leben der Mutter, dann war es unstet, wechselvoll, vielleicht auch glücklich. Die einzige Konstante, das weiß die Tochter, war jeden Spätsommer das Vorbeifahren am Haus von Edgar – es war und blieb, eine Liebe, in Gedanken.
Kristine Bilkau erzählt unterhaltsam von einer jungen Frau, die in den moralisch etwas verstaubten 1960er Jahren lebt und ihr Lebensglück gefunden zu haben glaubt. Sie setzt sich über die üblichen Hürden hinweg und scheitert doch, denn nie wird erzählt, wie grausam dieses Jahr des Wartens war, wie schwer es für sie war, wieder Fuß zu fassen, wieder allein ihren Weg zu gehen gegen die Vorhaltungen der Gesellschaft, denen sie gewiss ausgesetzt war.
Viele Leerstellen muss der Leser in Kauf nehmen, kann aber so auch seiner eigenen Fantasie freien Lauf lassen und gemeinsam mit der Tochter das Leben der Mutter rekonstruieren.
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