Rachel Cusk: Die Bradshaw-Variationen, Aus dem Englischen von Sabine Hedinger, Rowohlt Verlag, Reinbek 2011, 288 Seiten, €19,95, 978-3-498-00934-2

„Jetzt geht ihr auf, dass das Leben nicht linear verläuft, dass es keine Reise ist, keine Wegstrecke, die man zurücklegt, sondern ein unumkehrbarer Ansammlungsprozess, der zum Stillstand führt. Was sich bewegt, ist allein die Perspektive.“

Diese und viele weitere Sätze, sprachliche, vielschichtige Bilder und humorvolle, feinsinnige Gedankengänge in Rachel Cusk klugem Roman geben der Episodengeschichte über die drei Generationen der Familie Bradshaw eine besondere Tiefe. Da ist Thomas. Der 42-Jährige nimmt sich nicht nur ein Sabbatjahr, sondern überlegt ernsthaft als Hausmann weiterzuleben. Er gesteht sich nicht ein, dass er in einer Krise gelandet ist, hofft auf Inspiration und wird einen schweren Fehler begehen.
Tonie, sein Frau, hat an der Universität im Institut für Anglistik eine leitende Stelle angenommen und ist über den Rollenwechsel nicht traurig. Die 8-jährige Tochter Alexa genießt die Zeit mit dem Vater, der begonnen hat das Klavierspiel ( der Gedanke an Bachs „Goldberg-Variationen“ oder Elgars „Enigma-Variationen“ drängt sich auf ) zu erlernen und die Tage an sich vorbeiziehen lässt. Thomas jedoch stellt sich auch viele Fragen, z.B. die Kunst betreffend, u.a. warum er mit keinem Talent gesegnet wurde und wie man eigentlich leben sollte. Haushaltspflichten nimmt er nicht sonderlich ernst.
Rachel Cusk wirft einen kritisch ironischen, aber auch ernsten Blick auf den gehobenen Mittelstand Englands, seine Lebensentwürfe, seine Schwierigkeiten mit der Emanzipation und Selbstverwirklichung. So muss sich Thomas bei jedem Familientreffen rechtfertigen, ob es sich nun um seine eigenen unterkühlten Eltern oder die anstrengenden, fordernden Schwiegereltern handelt.

Auch die Brüder bringen wenig Verständnis auf. Howard, der Älteste, ist ein Selfmademan. Seine Frau Claudia kümmert sich im großen Haus um die Kinder und gibt vor zu malen. Doch in jeder Episode jammert sie darüber, dass sie nie zu ihrer künstlerischen Arbeit finden kann, weil Howard mal krank ist oder ihr einen Hund anschleppt, der völlig neurotisch ist. Schlechte Stimmungen und Aggressionen, dafür hat Rachel Cusk eine gutes Sensorium, tobt Claudia dann an den Kindern aus und ihrer Unfähigkeit sich in sie hineinzuversetzen. Das alte Spiel der unerfüllten Erwartungen setzt sich von Generation zu Generation fort.

Leo, der jüngste Bradshaw, schlägt sich bei Familientreffen mit den unauslöschlichen Prägungen der Kindheit, die in seinem eigenen Familienleben, wie auch dem der Brüder, immer mitschwingen, herum. Er scheint aber für die Autorin als Figur nicht so interessant zu sein. In ihrer so eigenwilligen, virtuosen Sprache, voller Musikalität und Humor beobachte.

Auch Tonie setzt sich mit ihrer neuen Rolle auseinander und spürt die männliche Ablehnung ihrer neuen Position.

Der Episodenroman „Die Bradshaw-Variationen“ lebt von seinen fein gezeichneten, poetischen Beschreibungen menschlicher Zustände, den bildreichen Metaphern und den Innensichten der einzelnen Figuren. Dabei versteht es die Autorin in schneller Folge immer wieder zu den Figuren verschiedene Positionen einzunehmen. Sie wechselt vom Selbstbild, zu fremden Projektionen und wieder hin zum ganz normalen Alltag.

Rachel Cusk erinnert daran, dass das eigene Glück nicht davon abhängig gemacht werden kann, dass alles gleich bleibt. Wie jedoch die Lebensentwürfe so richtig gut funktionieren könnten, die Antwort bleibt sie dem Leser schuldig.