Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit, Diogenes Verlag, Zürich 2016, 368 Seiten, €22,00, 978-3-257-06958-7

„Ich bin es, wenn ich zulasse, dass meine Vergangenheit mich beeinflusst, und ich bin es umgekehrt genauso, wenn ich mich ihr widersetze.“

Einschneidend und hart ist der Schicksalsschlag, den die drei Geschwister Liz, Marty und Jules Moreau erleben müssen. Ist in einem Moment das Leben in Ordnung, so kann es im nächsten völlig aus den Fugen geraten. Als die Eltern der drei bei einem Autounfall sterben, werden für die Kinder völlig neue Weichen für ihre Lebenswege gestellt. Alle drei gelangen in die Obhut der Tante und gehen letztendlich aber auf ein Internat mit wenig Komfort. Der 11-jährige, doch einst selbstbewusste Jules verkriecht sich in seiner Einsamkeit, erträgt die Schikanen der Mitschüler und weiß, dass er dieses Familiengefühl der Sicherheit nie wieder erleben wird. Die attraktive ältere Liz zelebriert ein extrovertiertes Dasein, schmeißt die Schule, arbeitet als Model, konsumiert Drogen und Alkohol und flieht, wenn sie gebraucht wird.

Der begabte Marty, das Kind in der Mitte, kümmert sich kaum um den jüngeren Bruder und beide entdecken doch erst im späteren Erwachsenenleben wie sehr sie einander zugetan sind.

Für den Erzähler der Geschichte, Jules, der nach einem schweren Motorradunfall reflektierend sich erholt, ist nur ein Mensch in seiner Kindheit, die bereits mit dem Tod der Eltern endete, wichtig: die rothaarige, belesene Alva. Sie setzt sich im Klassenraum zu dem einsamen Jungen, der nicht ahnt, dass auch sie einen Verlust beklagt, über den sie erst später sprechen wird.

„Wie ein sich ausbreitender Riss nahmen meine Ängste zu. Ich begann, mich vor dem Dunkeln zu fürchten, vor dem Tod, vor der Ewigkeit. Diese Gedanken trieben einen Stachel in meine Welt, und je häufiger ich über all das nachdachte, desto mehr entfernte ich mich von meinen oft unbeschwerten, gutgelaunten Mitschülern. Ich war allein. Und dann traf ich Alva.“

Alva und Jules teilen ihre Träume, sind einander zugetan und verlieren sich doch aus den Augen. Als beide sich wieder begegnen, da sind sie bereits um die dreißig und Alva ist mit einem in Vergessenheit geratenen, aber von ihr bewunderten, russischen Autor verheiratet. Abgeschieden leben die beiden in der Schweiz, wo Jules sie besuchen wird.

Immer wieder umkreist Jules die Vergangenheit, seine Einsamkeit, seine Aktivitäten, die er unternimmt, um sich an seinen traurig gewordenen Vater oder die charismatische Mutter zu erinnern. Jules fotografiert, beginnt ein Jurastudium und schreibt. Eine Tätigkeit, die er sporadisch und sich quälend immer wieder beginnt und nur von Alva bestärkt nicht beendet.

Schnell verliert der Leser sich in den Lebensgeschichten der drei Geschwister, die sich bei aller Gegensätzlichkeit stützen, auch behindern und doch wieder zueinander finden. Immer wieder durchdenkt der Erzähler, was geschehen kann, wenn sich die Wege der einzelnen Menschen nicht gekreuzt hätten und wie gehen Menschen mit Verlusten, Schuldgefühlen, Trennungen und großen Gefühlen um?

Mit tiefen Einschnitten muss jedoch nicht nur Jules fertig werden und doch lesen sich die einzelnen Geschichten der fiktiven Wellsschen Figuren unterhaltsam, lebensecht, unsentimental und berührend. Mit diesem Buch viele Stunden zu verbringen ist ein Genuss, denn Benedict Wells schreibt wunderbare Szenen und Sätze, hinter denen sich ein tiefes Nachdenken und auch Lebenslust verbergen.