Fiona Barton: Die Witwe, Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld, Wunderlich Verlag bei Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016, 432 Seiten, €16,99, 978-3-8052-5097-9

„Aber an dem Tag schrie er. Ich hatte mir drei kleine Alben gebastelt und Bilder reingeklebt, die ich aus Zeitungen im Salon geschnitten hatte, aus Zeitungen und Glückwunschkarten. Auf jedes Album hatte ich „Meine Babys“ draufgeschrieben, denn das waren sie.“

Jean Tayler hat sehr früh geheiratet. Glen, dem nichts wichtiger war als ein sauberer und ordentlicher Haushalt, wollte sie auf Händen tragen. Nun ist sie mit fast vierzig Jahren von einer Sekunde auf die nächste Witwe geworden, denn ein Bus hat ihren Ehemann überrollt.

„… und ich konnte keinem sagen, wie froh ich war, dass er tot war. Endlich war Schluss mit seinem Unsinn.“

Die Witwe ist eine sehr verschlossene Frau, ihre innere Stimme jedoch lässt ahnen, dass sie nicht das naive, verhuschte Wesen ist, als das sie sich nach außen hin präsentiert. Fiona Barton erzählt von vier Jahren im Leben der Taylers, vier schmerzliche Jahre in denen die sogenannte „schreckliche Sache“ die Hauptrolle spielt. Aus verschiedenen Figurenperspektiven beleuchtet die englische Autorin die Geschehnisse, aus der Sicht der Witwe, der Journalistin Kate Waters von der Daily Post, des ermittelnden Polizisten Bob Sparkes und der Mutter von Bella, Dawn Elliott.

Die Ehe von Jean und Glen ist keine glückliche, denn Jean wünscht sich nichts so sehr wie ein Kind, aber Glen ist zeugungsunfähig. Er ist längst nicht mehr der aufmerksame Ehemann, zieht sich immer mehr zurück, verbringt Stunden mit seinem Computer und beschwört immer wieder den festen Zusammenhalt dieser Ehe. Jean hat durch die frühe Bindung nie herausgefunden, was sie eigentlich vom Leben will. Als Frisörin trägt sie zum Haushalt bei, allerdings ist Glen derjenige, der sagt, was gekauft wird und wie ihr Leben aussehen soll.

Als die Bank ihn feuert, will er sich angeblich mit einem Fuhrunternehmen selbständig machen und arbeitet vorerst als Fahrer in einer kleinen Firma.
Zeitversetzt wird der Leser langsam mit Vor- und Rückblicken in die Handlung hineingezogen. Als Glen 2010 tot ist, versucht die Presse ein Interview mit Jean zu ergattern, nur Kate Waters findet einen Zugang zur zutiefst verstörten Frau.

Vor vier Jahren begann die Katastrophe, die Jeans Leben maßgeblich beeinflussen wird. Aus dem Vorgarten der jungen alleinerziehenden Mutter, Dawn Elliott, verschwindet ihr kleines Kind, Bella. Schnell gerät Glen, dessen Wagen angeblich in der Nähe des Hauses gesehen wurde, in den Focus der Ermittlungen. Sein Computer wird untersucht und gefunden werden zahlreiche pornografische Bilder von Kindern.
Akribisch und detailliert erzählt die englische Autorin von der polizeilichen Kleinarbeit, Recherchen, Vernehmungen, dem Hinzuziehen von Spezialisten und einem Verdächtigen, der wie ein Aal sich aus allen Befragungen herauswindet.
Jean ist am Boden zerstört, sie verliert ihre Arbeit, ihr Haus wird von Presseleuten belagert und jeden Tag kann sie neue Details aus dem Intimleben ihres Mannes in der Zeitung lesen. Er stellt sich als Unschuldslamm hin, dem alle nur Böses wollen und sie beginnt langsam zu zweifeln. Doch Jean ist von ihrem Mann abhängig, sie hat sich in die Kind-Frau-Rolle begeben, aus der sie nicht entfliehen kann. Sie erträumt sich ein Leben mit einem Baby und weiß, das Glen kein Kind adoptieren würde. Sie hasst Bellas Mutter, die ihr kleines Kind nicht richtig beaufsichtigt hat.

Der Indizienprozess, der gegen Glen angestrengt wird, endet mit einem Freispruch.
Ein Disaster, das die Verteidigung auseinanderpflückt, ist die Tatsache, das die Polizei im Chat versucht hat, Glen in eine Falle zu locken.
Für den ermittelnden Polizisten, der von Bellas Schicksal geradezu besessen ist, ein Karriereknick. Doch dann ergeben sich neue Verdachtsmomente und der Fall wird erneut aufgerollt. Letztendlich bleibt die Frage, was wusste Jean? Und wo ist Bella Elliott?

Psychologisch ausgefeilt sind alle fiktiven Figuren von Fiona Barton, ambivalent und nicht leicht durchschaubar gezeichnet. Extrem verstörend im Kleinstadtleben wird die Arbeit der Presse geschildert, die auf Sensationen aus ist und Existenzen zerstören kann. Ohne zu langweilen und geradezu minutiös schildert die Autorin die Polizeiarbeit, die auch im kleinsten Fitzelchen, so auch im Fall Bella, Beweisstücke zu Tage fördert und doch scheitert. Fiona Barton hat einen Thriller geschrieben, der unter die Haut geht und noch lang nach dem Lesen nachwirkt.