Owen Sheers: I saw a man, Aus dem Englischen von Thomas Mohr, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2016, 304 Seiten, €19,99, 978-3-421-04669-7
„ Er würde auf ewig ein Betrüger sein. Nicht wie beim Schreiben, zum Zwecke größerer Klarheit, sondern im Leben, einer Unterlassung, einer Lüge wegen. Er war zu einer Verkörperung seiner schriftstellerischen Technik geworden; er hatte sich aus diesen Minuten im Haus des Nelsons ebenso getilgt wie aus seinen Texten.“
Zwei Menschen werden in dieser Geschichte sterben und beider Tod ist sinnlos. Es sind Unfälle, Ursache des einen ist die globale kriegerische Auseinandersetzung, der andere geschieht in der vermeintlichen Idylle einer Familie.
Alles lief im Leben von Michael Turner bisher glatt. Als Journalist und Buchautor konnte er erfolgreich in den USA den Markt erobern, um dann nach Großbritannien, frisch verheiratet mit Caroline, zurückzukehren. Als Auslandskorrespondentin hatte sich Michaels Frau einen Namen gemacht. Um zur Ruhe zu kommen und zu schreiben, ziehen beide nach Wales. Michael erkennt schnell, dass er nicht der Geschichtenerfinder ist, den ein guter Roman braucht. Und so sucht er sich reale Schicksale von Menschen, begleitet diese eine Weile und verarbeitet das Gesehene, Erlebte mit dichterischer Freiheit.
Über sein Leben resümiert Michael als er ein Jahr später an einem heißen Sommertag ins Haus seines Freundes in Hampstead Heath und Nachbarn Josh Nelson geht, um einen ausgeborgten Schraubenzieher zurückzuholen. Doch niemand scheint zu Hause zu sein. Michael weiß, dass Samantha, Joshs Frau, unterwegs ist. Aber wo ist Josh, wo sind die Mädchen Rachel und Lucie? Michael schaut sich auf diesem fremden Territorium um, betritt Räume, die er vorher nie gesehen hat. Bei seinem Rundgang beginnt der Gedankenstrom über Ereignisse der vergangenen Zeit. Caroline ist von ihren Dreharbeiten in Pakistan nicht zurückgekehrt, Michael hat das Haus nach kurzer Ehe verkauft und ist nach London gezogen. Zu seinen Nachbarn, der Familie Nelson, er ist bei der Lehmann Bank, sie war Fotografin, entwickelt sich eine enge Freundschaft. Der Witwer verbringt zur Verwunderung seiner Umgebung viel Zeit mit den Nelsons, die gut situiert ein völlig anderes Leben als Michael führen. Doch Michael ist schnell in den Alltag integriert, ob er nun mit Samantha die Kinder in die Schule bringt, an Feiertagen dabei ist oder mit Josh joggt. Aber Michael spürt auch, dass in der Ehe nicht alles rund läuft.
Szenenwechsel: Major Daniel McCullen fliegt um der Familie willen keine Einsätze mehr in Kriegsgebieten, sondern fährt jeden Morgen zu seiner Arbeit. Er betätigt Drohnen und wird auf der Suche nach einem gefährlichen Terroristen einen Konvoi beschießen, in dem auch das Team von Caroline mitfährt. Der zufällige Tod dieser jungen Journalistin lässt McCullen keine Ruhe. Er beginnt zu trinken, wird aus der Armee wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung entlassen, sucht Antworten und kehrt auch seiner Familie den Rücken. Daniel ist verzweifelt über den Tod des vermeintlichen Mannes, den er gesehen haben will.
„ Er würde den Mann ausfindig machen, den Caroline Marshall geheiratet hatte, und ihm schreiben. Er würde ihm schildern, was geschehen war. Nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil er nicht anders konnte. Weil er wusste, dass er nur dann würde weiterleben können. Er war es leid, unsichtbar zu sein.“
Aber dann geschieht im Haus der Nelsons das Unglück und Michael, der nichts tun konnte, wird schweigen. Eine Lüge folgt der nächsten und die Familie Nelson bricht auseinander.
Mit der zunehmenden Digitalisierung scheint die Welt kleiner zu werden und aufgrund der Vernetzung angeblich berechenbarer. Wir sind besser informiert und doch entstehen immer mehr Ängste, Unwägbarkeiten und Konflikte, die wir im Kleinen wie im Großen nicht lösen können.
Der Brite Owen Sheers, der gut sieben Jahre an diesem, seinem zweiten Roman gearbeitet hat, entwirft ein weltumspannendes Szenario, das im Privaten endet und wiederum von den wirtschaftlichen Ereignissen überrollt wird.
Er ist ein großer Erzähler und hat einen Roman mit glaubwürdigen Wendungen geschrieben, den man kaum aus den Händen legen kann, bevor man die letzte Seite umgeblättert hat.
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