Katharina Hartwell: Der Dieb in der Nacht, Berlin Verlag, Berlin 2015, 320 Seiten, €20,00, 978-3-8270-1279-1

„Gewöhnlich stolpern Menschen achtlos von einem Wort ins nächste, und man muss nicht mehr tun, als sich zurückzulehnen und abzuwarten, bis sie sich selbst in die Irre gesprochen haben. Mit ihm wird sie sich mehr einfallen lassen müssen.“

In einem sehr heißen Sommer vor zehn Jahren verbringen der 19-jährige Felix, sein enger Freund Paul, seine Schwester Louise und Mutter Agnes die Tage in Dornheim, einem Ort unweit von Berlin. Felix hat erzählt, dass er eventuell zum Studium nach Frankfurt gehen würde, Paul ist überrascht und offenbar verärgert. Die Stimmung ist auch durch die Wärme gereizt. Felix moniert, dass keine Cornflakes mehr da sind, die Cola ist auch aus. Er teilt den anderen mit, dass er zur Tanke geht. Angeblich hat er dort auch eine Colaflasche gekauft und ist doch seit diesem harmlosen Einkauf spurlos verschwunden.

In einer Parallelhandlung erzählt die Berliner Autorin Katharina Hartwell von der Freundschaft der beiden Jungen. Paul fühlt sich sehr zum selbstbewussten Felix hingezogen, der sich bereits früh für Geschichte interessiert. Aber Paul liebt auch Felix‘ Zuhause. Auch wenn Simon, Felix‘ Vater kaum auftaucht und seine Ruhe beim Arbeiten will, herrscht durch Agnes eine offene, gesprächsfreudige Atmosphäre. Agnes arbeitet als Professorin für Skandinavistik, Mitbringsel aus fernen Ländern stehen in den Regalen und in den Räumen des Hauses stapeln sich die Bücher. Pauls eigenes Zuhause wirkt dagegen geradezu lieblos, kleinkariert und für das Gezeter und Gefauche der Eltern schämt sich der Junge. Immer mehr Zeit verbringt Paul mit Felix, immer enger fühlt er sich zu Agnes, aber auch Louise hingezogen. Paul studiert für Agnes ziemlich erfolgreich Germanistik, arbeitet auf eine Doktorarbeit hin. Er liest gern, ahnt aber, er hätte alles studieren können, wäre da nicht Agnes gewesen.

Durch Agnes‘ Vermittlung gelangt Paul nach Prag und glaubt, dort Felix gefunden zu haben. Dabei sieht der Mann, Ira Blixen sein Künstlername, Felix gar nicht ähnlich. Nur die Körperhaltung, ein Muttermal an der Hand und an den kleinen Dingen glauben Paul und auch später Louise, den Verschwundenen zu erkennen. Paul spürt aber auch, ausgelöst durch die beängstigende, unmittelbare Beobachtung eines Unfalls in einer Prager Straße, eine homoerotische Anziehung, die ihn einst mit Felix verbunden hat.

Paul wird scherzhaft von seiner Familie als Nimmersatt bezeichnet, dieses Wort wird auch Blixen, zu Pauls Erstaunen, später benutzen. Paul mopst gern Dinge, die ihn mit anderen Menschen verbinden. So klaut er Felix Federmäppchen als sie noch gar nicht richtig befreundet waren. Auch Blixen, so stellen Louise und Paul fest, stiehlt wichtige Dinge der beiden und gräbt sich so in ihr Leben ein.

Es bleibt ein Rätsel, warum Paul und Louise sich in der Idee festbeißen, dass Blixen, der keinen DNA – Test machen will, Felix sein könnte. Ira Blixen verweigert eine Suche nach seiner Vergangenheit mit dem Argument, dass er sich vor gut fünf Jahren, als er aus der Moldau gezogen wurde, aus dem Nichts, ohne eine einzige Erinnerung oder Person, die ihn vermissen könnte, ein Leben aufgebaut habe.
Und dann steht Blixen, der als Künstler arbeitet, Schmuck entwirft, aber auch Gebilde aus Knochen, bei Paul in Berlin vor der Tür und ein seltsames Spiel beginnt, denn auch Louise wird zu Paul ziehen und Agnes wird aus Frankfurt anreisen.
Doch warum projizieren Paul und Louise ihre Hoffnungen in diese eine Person, die so einiges über die beiden weiß, was zum Teil gespenstisch wirkt? Warum findet Paul nicht seinen eigenen Weg und würde am liebsten Felix‘ Stelle in der Familie einnehmen? Auch Louise kämpft um die Anerkennung der Mutter, die ihr verwehrt bleibt. Felix hinterlässt eine völlige Leerstelle in Agnes Leben, die niemand ausfüllen kann. Und doch, was ist mit ihm an diesem bewussten Tag geschehen?
Agnes deutet vieles durch die Märchen von Hans Christian Andersen und Ira Blixen gibt sich einen Namen nach einer Erzählung der Dänin Karen Blixen „Gespensterpferde“. Anspielungen über Anspielungen, unheimlich und bedrohlich, schwirren durch die mysteriöse Handlung über Identitätssuche oder schändlichen Betrug, die in einer atemberaubenden Sprache voller Bilder, mal im Rückblick, mal aus den Perspektiven von Paul oder Louise, verfasst wurde.

Distanz, Unwissenheit, Nähe, Erwartungen und Enttäuschungen gehen in diesem rätselhaften Roman Hand in Hand. Alle sind auf der Suche und nichts wird geklärt, um dem Leser einfach den Raum für eigene Ideen und Deutungen zu lassen.