Véronique Olmi: Nacht der Wahrheit, Aus dem Französischen von Alexandra Baisch und Claudia Steinitz, Verlag Antje Kunstmann, München 2015, 276 Seiten, €19,95, 978-3-95614-054-9
„Er war ihr Spiegel. Er war ihr Abbild. Seine Perfektion würde aus Liouba ein außergewöhnliches Wesen machen, die Erste auf dem Podest der Mutterschaft. Was bedeuteten dann noch die Gleichgültigkeit, Feindseligkeit und Verachtung der anderen?“
Bereits in ihrem ersten Roman „Meeresrand“ thematisiert Véronique Olmi den Existenzkampf einer Mutter. Sie will, ehe alles endet, den Wunsch ihrer Kinder erfüllen und ihnen das Meer zeigen. Auch der zwölfjährige Enzo, der mit seinem massigen Körperbau aussieht wie ein Fünfzehnjähriger, bittet die Mutter um eine Reise ans Meer. Wie eingeschlossen leben die noch sehr junge Mutter, Liouba ist neunundzwanzig, und ihr Sohn in einem kleinen Zimmer mitten im reichsten Bezirk von Paris. Sie putzt als Schwarzarbeiterin die riesige Wohnung der reichen Eigentümer, die oft auf Reisen sind. Mutter und Sohn teilen sich ein Bett, aber nicht ihre Ängste und die Einsamkeit. Liouba arbeitet ununterbrochen, immer in der Furcht, die Wohnungseigentümer kehren zurück und sehen nicht ihre emsige Arbeitswut. Enzo geht in seinen ewig schwarzen billigen Klamotten im 1. Arrondissement ins Collège und ist tiefunglücklich, denn er ist der Prügelknabe derjenigen, die sich für etwas Besseres halten. Dabei ist Enzo ein freundliches, sehr belesenes, fantasiebegabtes Kind, das es seiner Mutter in jeder Hinsicht recht machen will. Sie lobt ihn überschwänglich vor ihren Freundinnen und meint damit eher sich. Liouba will unbedingt, trotz manchmal fahriger Nervosität und Existenzsorgen, eine gute Mutter sein, ihrem Kind alles geben, was sie kann. Ein bisschen Glück für sich findet Liouba zum Ärger von Enzo bei den Samstagabendbekanntschaften, die sie mit in die Wohnung bringt.
Enzo beschließt, endlich mit der Mutter zu sprechen. Schon lang will er wissen, wer sein Vater und seine Familie ist, auch wenn Liouba immer beteuert, sie beide seien die Familie. Enzo steigert sich in seinen Träumen in eine Familiengeschichte hinein, die eine enge Verbindung zwischen Russland und Frankreich 1914 spinnt. Nie spricht Liouba Russisch, nie wehrt sie sich gegen die Demütigungen, die sie von den Wohnungseigner hinnehmen muss und kämpft doch vor ihrem Sohn um ihre Selbstachtung.
„Sie würden das Inakzeptable akzeptieren. Und sich obendrein bedanken.“
Von Enzo erwartet die Mutter gute Noten, ohne zu ahnen, wie qualvoll jeder Montagmorgen in seinem Leben ist. Je mehr sich Enzo seinen Klassenkameraden durch Schwänzen oder vorgetäuschte Krankheiten entzieht, um so mehr wächst in ihnen der perfide Wunsch, ihm richtig wehzutun. Ein Sturm braut sich zusammen, den das naive Kind nicht spürt.
„Die Welt ist voll von Menschen, die geduldig Misshandlungen planen.“
Die Geschichte eskaliert und das unschuldige Kind gerät in die Fänge der gewaltsamen Mitschüler, deren Grausamkeiten und Empathielosigkeit unbeschreiblich sind. Die vorsichtige und bereits vom Putzen entnervte Liouba wird beim Baden in der Wanne von Madam erwischt und der Hausherr unterstellt seiner Angestellten, dass sie ihren Sohn schlägt, denn Enzos Körper ist mit Wunden überhäuft. Liouba und Enzo, aus deren Sicht das Geschehen erzählt wird, werden unabhängig voneinander eigene Wege gehen und sich sicher irgendwann wieder treffen.
Véronique Olmi konzentriert ihre ganze Sympathie und Aufmerksamkeit auf die Mutter – Sohn – Beziehung und sie entwirft ein präzises Bild einer zu engen Gemeinschaft, die ab einer bestimmten Phase nicht mehr gut funktionieren kann. Enzo beendet das Lügen und emanzipiert sich, er verweigert sich dem gemeinsamen Bett und den Erwartungen, die er nie erfüllen kann. Enzo muss das Trauma seiner Demütigung durch die Mitschüler bearbeiten. An dieser Stelle fragt sich der Leser unwillkürlich, warum Gruppen sich zu solchen Taten an Unschuldigen hinreißen lassen.
Es sind die Außenseiter, denen die französische Autorin seit jeher ihr Interesse widmet und dem ungerechten Sozialsystem, in dem die finanziell Schwachen trotz Verantwortungsbewusstsein und aller Mühe, die man sich vorstellen kann, untergehen.
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