Elena Gorokhova: Russisches Tattoo, Aus dem Englischen von Saskia Bontjes van Beek, Deutscher Taschenbuch Verlag, premium, München 2015, 432 Seiten, €16.90, 978-3-423-26068-8
„Das russische Ich ist mein Erbe, seit meiner Geburt tief in mir verwurzelt. Das russische Ich ist für meine Mutter und meine Schwester und meine Tochter, mein Fleisch und Blut.“
Mit 24 Jahren wendet Elena der Sowjetunion, genauer gesagt Leningrad und ihrer herrischen Mutter, den Rücken zu, und reist aus. Ein Amerikaner, Robert, hat sie in der UdSSR geheiratet und nun fliegt sie in dem Glauben zu ihm, dass sie mit ihren Englischkenntnissen eine Lehrtätigkeit und das Glück in den USA finden wird.
Aber schnell landet die junge, ziemlich weltfremde Frau auf dem Boden der Tatsachen. Robert hat die sicher gut aussehende Elena nicht aus Liebe geheiratet, auch wenn man miteinander leicht halbherzig schläft. Er sei für die Ehe nicht geschaffen und außerdem hätte er eine Freundin, erzählte er Elena bereits vor dem dubiosen Ehearrangement. Warum Robert all die Reisen und auch Kosten für Lena auf sich genommen hat, wird im Laufe der autobiografischen Geschichte nicht deutlich. Die Erzählerin jedenfalls erkennt sehr schnell, wie fremdartig ihr das amerikanische Leben und auch die Mentalität der Leute ist. Der Kontrast zwischen gewohnter Mängelgesellschaft und dem Überfluss an Konsummöglichkeiten im Westen überfordert die junge Frau. Außerdem versteht sie das amerikanische Englisch nicht, denn sie hat feines britisches Englisch, allerdings nicht von einem Muttersprachler gelernt. Die englische Sprache war für Lena wie das Hinwegträumen in eine andere Welt.
Robert hilft Elena nicht wirklich bei der Arbeitssuche. Er schickt sie von Texas aus zur Mutter nach New Jersey. Aus der exotischen jungen Frau ist einfach nur ein hinderliches Anhängsel geworden. Da Lena von ihrer zupackenden Mutter, die sich in Leningrad um die Familie sorgte und kümmerte, völlig vereinnahmt wurde, ist sie auch in vielen praktischen Dingen einfach nur ungeschickt. Sie kann nicht kochen, hat keine Ahnung vom Einkaufen und wirkt wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist. Auch in ihren ersten Aushilfsjobs, immerhin hat sie die Green Card, versagt Elena kläglich, denn sie kann nicht kellnern. Eine bestimmte Form der Passivität, bedingt vielleicht durch die Umsorgung durch die Mutter und das Land, in dem man keinen Schritt unbeobachtet gehen konnte, trägt Lena in sich. Sie wird nicht unter Brücken landen, wie die immer bestimmende Mutter und die Propaganda es vorausgesagt haben. Sie wird einfach Glück haben.
Bei Roberts Mutter lernt Elena Andy, einen Psychotherapeuten kennen, einen offensichtlich geduldigen und liebenswerten Menschen. Elena trennt sich von Robert, der zum ersten Mal die Finanzen im Streit mit seiner Ehefrau anspricht. Auch hier bleibt die Autorin wage, was eigentlich hinter dieser Ehe steckte.
Mit Andy beginnt für Elena ein normales Leben in den USA. Sie findet einen vernünftigen Job als Lehrerin für eingereiste Russen, wechselt später an ein College und wird sogar ihren Doktor machen.
In zeitlich größeren Abschnitten erzählt Elena Gorokhova nun von ihrem Leben mit Andy. Immer wieder kehrt sie gedanklich in die Heimat zurück. Sie schickt der Mutter vieles, was sie benötigt.
Dann bekommt Lena eine Tochter, Sascha. Zu dieser Zeit kann die Mutter bereits in die USA reisen und sie bleibt. Sie lässt ihre gesamtes sowjetisches Leben mit all den Erinnerungen an den Krieg, das Schlangestehen, das schizophrene Alltagsleben und die Familie hinter sich.
„Ich fühle mich wieder wie ein Kind, gefangen in unserer Leningrader Küche, der ich eigentlich entkommen zu sein glaubte.“
Die Mutter, die Lena eher als Hemmschuh, denn als Förderin verstanden hat, lebt nun mit Lena, Sascha und Andy in einem Haus. Die Konflikte häufen sich und sogar Andy wird die Ruhe verlieren. Zwischen allen steht, zum einen der Generationenkonflikt und zum anderen die Vergangenheit, die Lenas Mutter mit sich trägt. Niemals kann sie Essen wegwerfen, sie hebt sogar das auf, das auf dem Boden gelandet ist. Zwischen Mutter und Tochter steht aber nun auch die Enkelin, die anders aufwächst als Lena. Lena wünscht sich zu sehr, dass die Tochter Russisch spricht. Aber alle Bemühungen ihrem Kind Tschechow und die russische Kultur und Sprache nahe zu bringen, scheint ins Leere zu laufen. Nur widerwillig lässt sich Sascha lenken, dabei ist sie aufnahmefähig und klug. Seltsam, die Eltern an den Rand der Verzweiflung bringend, sind die Wege, die Sascha gehen wird.
Am Ende jedoch zeigt sie der überraschten Mutter ihre Tattoos auf den Armen, die sie immer verdeckt hat.
Natürlich gibt es zahlreiche Auswandererbiographien, ein Genre, das gerade die amerikanische Literatur so reich gemacht hat. Elena Gorokhovas Erinnerungen jedoch wirken so ehrlich, authentisch und nachvollziehbar für alle, die den Umbruch in den 1990er Jahren miterlebt haben und alle Konflikte, mit denen die junge Frau fertig werden musste, jetzt aus einer anderen Perspektive besser nachvollziehen können. Es ist gerade der private Einblick, der ohne zu intim zu werden, mit all seinen Konflikten und Themen interessant ist. Sprachlich klar formuliert die Autorin den Zwiespalt zwischen dem eigenen Glücksanspruch, den Schuldgefühlen und den Erwartungen der anderen, denen sich niemand entziehen kann.
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