Patry Francis: Die Schatten von Race Point, Aus dem Englischen von Claudia Feldmann, Mare Verlag, Hamburg 2015, 588 Seiten, €20,00, 978-3-86648-226-5

„Gus glaubte nicht, dass er ihn verletzt hatte, obwohl die Gewalt immer noch da war, trotz der vielen Stunden des Gebets und der Jahre, die er darauf verwendet hatte, sie auszulöschen.“

Gustavo Silva und Hallie Costa sind beide neun Jahre alt als die Geschichte in Provincetown im Jahre 1978 beginnt. Gern spielen die Kinder am Ufer des Meeres auf Cape Code, doch Gus redet nicht mehr, seit seine Mutter vom eigenen Vater, einem eifersüchtigen Fischer, erschlagen wurde. Hallies Mutter ist bei einem Unfall ums Leben gekommen und nie wird ihr Vater, Nick Costa, portugiesischer Abstammung und Allgemeinmediziner, diesen Verlust verwinden.

Um Gus zu helfen, spaziert Hallie eines Tages mit zwei Fischen und einer Ausgabe von „David Copperfield“ zu seinem Haus. Auch wenn Gus Tante skeptisch die Tür öffnet, wird das Mädchen dem traumatisierten Jungen tagelang vorlesen, ob er nun will oder nicht. Und sie wird ihn ins Leben zurückholen. Dass er sie dann so vehement ablehnt, kann Hallie erst nicht verstehen, Jahre später findet sie eine Erklärung. Auch Neil Gallagher, ein enger Freund von Gus, begleitet Hallies Kindertage. Als Gus zu einem attraktiven Sportler und Frauenschwarm heranwächst, sucht er Hallies Nähe. Sie verweigert sich seinen Annäherungsversuchen. Als Gus‘ Vater, der nie seinen Sohn im Gefängnis sehen wollte, dann den Jungen zu sich ruft und kurz darauf seinem Leben eine Ende setzt, da ist Hallie für den trauernden Gus wieder da. Sie werden ein Paar und Gus erzählt Hallie zum ersten Mal von der Nacht, in der seine Mutter gestorben ist und er ihr nicht helfen sollte.

Bei der Schulabschlussfeier suchen alle ziemlich angetrunken den Strand von Race Point auf. Neil, schon immer in Hallie verliebt, versucht sie zu küssen. Gus rastet brutal aus, verprügelt den Freund und schlägt ohne Absicht Hallie, die zwischen die Prügelnden geht, ins Koma. Tief ist der Bruch zwischen den einst befreundeten Jugendlichen. Hallie, die eher Gus als Neil verzeihen würde, ist verzweifelt, denn Gus beschließt nach Hallies langer Genesungsphase sie noch einmal zu sehen. Er erklärt ihr, dass er sich seiner nicht sicher ist und den Schutz der Kirche suchen wird.
Jahre vergehen, Hallie ist mit Sam verheiratet. Gus hat sich als Priester einen guten Stand erarbeitet. Als jedoch Ava Cilento an seine Tür klopft und er weiß, dass sie nicht die Wahrheit sagt, ist sein Schicksal besiegelt.

Als würde die Vergangenheit ihn wieder einholen, soll er Avas Tochter Mila vor dem brutalen Vater und Ehemann schützen. Gus muss sich kümmern. Als er jedoch Ava, die sich von ihrem prügelnden Mann getrennt hat, in einem Motel aufsucht und nur eine Blutlache vorfindet, wird er als ihr Mörder, nie wurde eine Leiche gefunden, verurteilt. Hallie sagt im Prozess trotz Zweifel für Gus aus und doch muss er für lange Zeit ins Gefängnis.

Dass diese Geschichte nicht so enden kann und ein perfider Plan hinter diesem angeblichen Mord steckt, ahnt jeder Leser, der bis hierher an der doch manchmal leicht kitschigen, aber süffig geschriebenen Geschichte drangeblieben ist.

Ab diesem Zeitpunkt jedoch kippt die Perspektive, denn nun erzählt die amerikanische Autorin, die auch auf Cape Code lebt, aus der Sicht von Mila.

Keine Frage, dieser backsteindicke Roman gehört in den Urlaubskoffer, denn Patry Francis unterhält jeden Leser, der sich auf diese Geschichte einlässt. Auch wenn die haltlose Gewalt gegen Frauen sich unweigerlich durch den Roman wie ein roter Faden zieht, die Handlung, die sich um Lebenswünsche und Irrtümer dreht, ist psychologisch interessant und die Hauptfiguren, nicht allzu viele, sind ambivalent gezeichnet und glaubwürdig.