Sophie Albers: Wunderland, Knaus Verlag, München 2011, 176 Seiten, €14,99, 978-3-8135-0398-2
„ Jeden Tag schwanke ich zwischen dem Wunsch, in Tamer einen Weisen gefunden zu haben, und der Angst, dass er ein Vollidiot ist, der nur geschickt Aufgeschnapptes wiederholt.“
Die 35-jährige Journalistin und Ich-Erzählerin Hanna Persson hat es sich in den Kopf gesetzt, ein Porträt über Tamer zu schreiben. Tamer ist der Sohn eines Palästinensers und einer Deutschen. Der Vater hat die Familie verlassen als Tamer neun Jahre alt war. Sechzehn Jahre lebt der Mann arabischen Aussehens in Berlin und geht seinen undurchsichtigen, möglicherweise Drogengeschäften nach. Tamer schwadroniert in einer abgehakten Umgangssprache über alles, was ihm so durch den Kopf geht. Aus diesem Grund ist klar, er verkündet immer seine simplen Wahrheiten und Wertevorstellungen, wenn er über die Schwulen oder Nazis herzieht, jeden als Opfer tituliert und missgelaunt seinen „Machoscheiß“ verkündet. Hanna bildet sich ein, dass sie auch aus Recherchegründen sich als Frau devot benehmen muss, genießt im gleichen Moment die Aufmerksamkeit Tamers, der sie nie die Rechnung bezahlen lässt und natürlich mit dem Auto nach Hause fährt. Und doch ist sie von seinem rüden Ton abgeschreckt. Allerdings gibt es Momente, in denen Hanna nicht den Mund halten kann und dann auf Reaktionen stößt, die sie eher verwundern. Tamer jedoch lässt sie nie wirklich an sich heran, redet nie über das, was ihn innerlich bewegt oder was er unternimmt, wenn sie sich nicht treffen. Hanna kontrolliert ihre Sprache und bemerkt, wie abfällig ihre Redaktionskollegen auf ihren geplanten Artikel über den „Araber“ reagieren. Vorurteile schlagen Tamer an jeder Ecke entgegen und er provoziert sein Anderssein mit Genuss. Er ist Deutscher und wird doch nie in seiner Heimat als dieser angesehen. Berlin ist sein Zuhause und er benötigt keinen anderen Ort, um sich wohl zu fühlen.
Je mehr Hanna, die sich auch noch als Jüdin outet, über Tamer nachdenkt, um so mehr ist sie mit sich, ihrem Leben, ihrer Identität, ihrem Heimatgefühl beschäftigt.
In der Erzählung „Wunderland“ tippt Sophie Albers viele Fragen an, ohne wirklich Antworten geben zu können, denn zu archaisch, zu fremd in einer modernen Welt, in der nicht alles schwarz oder weiß ist, ist Tamers Weltbild. Die Autorin, die sicher viele eigene Erfahrungen fiktiv einfließen lässt, zeichnet ein Bild von einem komplizierten Menschen, der früh allein für sich einstehen musste. Wenig erfährt der Leser über die Familie Tamers und die deutsche Mutter, die doch Spuren in Tamers Denken hinterlassen haben muss. Hier fehlt in der reportageähnlich aufgebauten Erzählung ein Puzzle zum möglichen Verständnis. In Hannas Reaktionen spiegeln sich mal Verunsicherung, mal Bewunderung, mal völlige Verständnislosigkeit und Abwehr. \r\nTamer bleibt bis zum tödlichen Ende ein Rätsel – für Hanna und für den Leser.
Schreibe einen Kommentar