Ruth Schweikert: Wie wir älter werden, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2015, 272 Seiten, €21,99, 978-3-10-002263-9
„Es hätte auch gutgehen können, sagte sich Jacques, aber es war eben nicht gutgegangen; nicht restlos zumindest; Miriam war tot, und womöglich war sie auch deshalb gestorben, weil sie den Weg freimachen wollte für Helena und Jacques.“
Menschen treffen sich, fühlen sich zueinander hingezogen, lieben sich, verlieren sich, treffen Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen und sterben.
Was wäre geschehen, wenn die charismatische Helena und der bodenständige Jacques, beide aus sehr unterschiedlichen sozialen Schichten, nachdem sie sich an der Universität begegnet sind, geheiratet hätten? Aber nach gut sieben Jahren entscheidet sich Helena, die Verbindung zu beenden und Emil Seitz, den biederen Apotheker, zu ehelichen.
Sie will Kinder, lautete das Argument und doch schien im Verborgenen noch mehr mitzuschwingen. Jacques, der nach einem ziemlichen Dilemma als angestellter Jurist arbeitet, wird mit Friederike zusammenleben und drei Kinder von ihr bekommen. Kathrin, Sebastian und Jakob ahnen nicht, dass sie zwei Halbschwestern, Iris und Sabine, haben. Über drei Jahrzehnte hinweg haben sich Helena und Jacques einmal im Monat getroffen. Von 1995 an lebten sie dann wirklich zusammen, gute neun Jahre lang. Dann hat Jacques seine Frau Friederike angerufen und gefragt, ob er nach Hause kommen kann.
„Friederike hatte ihn angenommen wie ein falsch adressiertes Paket, das nach einigen Umwegen zu seinem Absender zurückgeschickt wurde, ohne jedes Tamtam.“
Helenas Weg nach Hause war jedoch versperrt, wenn sie, die immer reich war, überhaupt daran dachte. Emil hatte sich mit einer viel jüngeren Frau aus Südamerika zusammengetan, die illegal in der Schweiz lebte.
Alle vier hatten davon gewusst und als Tochter Iris unterwegs war, einen Pakt geschlossen, nie darüber zu sprechen. Doch wie lebt man mit diesem Verrat an den Kindern, an den Partnern? Welche Gefühle bleiben zum Ende hin?
Nach und nach blättert Ruth Schweikert die Geschichte dieser beiden Schweizer Familien auf, aber auch die der Nachbarn, eines Arztes und vieler Nebenfiguren. Parallel dazu tauchen im Kontext der Ereignisse aktuelle Nachrichten von Terrorakten auf, ob nun in München, New York oder Paris.
Sie erzählt von Iris und ihrem Leben in den USA, dem frühen Tod des Vaters ihrer drei Kinder, von den Irrungen und Wirrungen im Leben ihrer Eltern und der Erkenntnis, dass Emil nicht ihr Vater ist. Es geht um die begabte, überaktive Miriam, die einzige Tochter Emils, die sich durch Essensentzug und Heroin umbrachte. Viele, viele Namen fallen, die der Leser nach und nach den Familien zuordnet. Wie in einem verzweigten Stammbaum der sich mit einem weiteren Stammbaum verbindet, dringt die Schweizer Autorin tief in die Schicksale ihrer Figuren ein und berichtet ausführlich von ihren Lebenswegen; von Sebastian, der ebenfalls ein Leben mit zwei Frauen führt und sich nicht zur Scheidung von der ersten türkischen Ehefrau entschließen kann, obwohl er bereits drei Kinder mit der neuen hat. Sie erzählt von Kathrin, die mit ihrer penetranten Art bereits als Kind den Eltern das Leben schwer gemacht hat.
Viel zu früh zieht sie aus, brüskiert ihre Eltern, bekommt ihr erstes Kind von einem Mann, der ihr mit der Polizei droht, wenn sie ihn jemals mit dem Kind konfrontiert. Aber sie findet beruflich und privat ihr Lebensglück und kümmert sich nun, auch aus weiter Ferne, um die Eltern. Unbehaust wirken alle Kinder der beiden Familien, unbeholfen in der Suche nach dem Glück.
Jacques erinnert sich mit seinen siebenundachtzig Jahren an sein Leben.
Zu viele Geschichten, Erinnerungsfetzen und Episoden über Lebenswege von unzähligen Figuren, die eine Beziehung eingehen, sich quälen, beschämen, lieben oder wieder trennen, werden aneinandergereiht. Erleichtert atmet man beim Lesen auf, wenn eine bekannte Person in den Handlungsverlauf zurückkehrt.
Dieses Erzählprinzip ist bei Ruth Schweikert nicht neu. Sie setzt aus vielen Puzzleteilchen eine breit angelegte, zeitlich weit ausufernde Geschichte mit viel zu vielen Figuren zusammen. Wer sich darauf einlässt, mag Ruth Schweikers Erzählton, die Tragödien und Glücksmomente, die nun mal zum Familienleben dazugehören.
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