Dörte Hansen: Altes Land, Knaus Verlag, München 2015, 288 Seiten, €19,99, 978-3-8135-0647-1
„Sie musste bleiben auf ihrer Insel, auf diesem Hof, wo sie zwar keine Wurzeln schlagen konnte, aber doch festwachsen an den Steinen, wie eine Flechte oder ein Moos. Nicht gedeihen, nicht blühen, nur bleiben.“
Vera Eckhof bleibt in dem kleinen Ort im Alten Land, das umgeben ist von Apfel-, Birnen- und Kirschbäumen. Als sie fünf Jahre alt war, musste ihre Mutter, die stolze, äußerst musikalische Hildegard von Kamcke 1945 aus Ostpreußen fliehen. In Ida Eckhofs großem Haus quartierte sie sich ein, kämpfte sich von der Gesindekammer bis zum Herd vor und hörte von der Bäuerin nur: „Von mi gift dat nix.“
Aber die arbeitsame Hildegard, die für ihre Tochter Lebensmittel anfänglich stehlen muss, kennt keine Demut, sie greift sich den aus dem Krieg seelisch kaputten Sohn von Ida, Karl. Sie wütet im alten Haus, kehrt alles von oben nach unten und treibt Ida in den Selbstmord. Ida hat keinen Rückhalt durch ihren Sohn, sie kämpft nicht mehr. Aber Hildegard bleibt nicht unter Bauern, sie strebt nach dem Stadtleben, verlässt die Tochter als diese vierzehn Jahre alt ist und beginnt neu.
Parallel zur vergangenen Geschichte erzählt Dörte Hansen in kurzen prägnanten Sätzen von Anne und ihrem Leben in Hamburg – Ottensen. Anne ist die Tochter von Marlene und Marlene wiederum ist die zweite Tochter von Hildegard. \r\nJetzt arbeitet Anne ziemlich frustriert, auch ohne abgeschlossenes Musikstudium und einer Tischlehre, als Flötenlehrerin in einer Einrichtung, die sich der frühmusikalischen Erziehung widmet. Und da Eltern ja nicht früh genug damit anfangen können, sind die Kurse bestens besucht. Mütter aus diesem Stadtteil in Hamburg wünschen sich kreative, eigenständige Kinder, die sich mal durchsetzen. Anne ist selbst Mutter des vierjährigen Leon. Sie lässt sich mit Vornamen ansprechen und duldet, dass Leon immer noch seinen Schnuller in den Mund schiebt und unter Umständen wird ihm auch noch ein Fläschchen gemacht.
„… sie reiht sich ein in den Treck der Ottensener Vollwert-Mütter, die jeden Tag aus ihren Altbauwohnungen strömen, um ihren Nachwuchs zu lüften, die Einkäufe aus dem Bio-Supermarkt im Netz des Testsieger- Buggys, den Kaffeebecher in der Hand und im Fußsack aus reiner Schafwolle ein kleines Kind, das irgendetwas Durchgeweichtes aus Vollkorn in der Hand hielt.“
Anne spürt, dass ihre Beziehung zum Vater ihres Kindes Christoph nicht wirklich eng ist und dann betrügt er sie auch noch mit seiner Lektorin, einer fantastisch aussehenden Schneewittchen-Frau. Anne flieht zu ihrer Tante Vera, die sie eigentlich kaum kennt und die alle für recht seltsam halten. Vera ist bei Karl, der in den Nächten immer wieder die grausigen Kriegserlebnisse in Russland durchleidet, geblieben. Sie ist Zahnärztin geworden und hat eine Praxis im Ort geführt. Haus und Hof hat sie nicht gepflegt, nur ihre Pferde und Hunde erhielten die notwendige Zuwendung. Nachbar Heinrich Lührs schleicht sich heimlich in den Garten, um sich ein bisschen um die Pflanzen zu kümmern. Seit seine Frau Elisabeth auf so tragische Weise ums Leben gekommen ist, lebt er allein auf dem großen Hof. Keiner seiner drei Söhne könnte es mit dem Vater aushalten und niemand wird den Hof übernehmen.
Und dann sind da noch die Zugezogenen aus der Stadt, Burkhard Weißwerth aus Hamburg und seine ambitionierte Frau Eva, die trotz ersehnter Entschleunigung ihre „Gummistiefelwelt“ nicht zwei Winter lang aushalten wird. Ausgepowert vom Arbeitsleben suchen sie nun den „Spirit“ der alten Bauernkaten, das abgeschminkte Leben mit eingekochten Marmeladen und Chutney, dass das Bauernvolk nicht kennt. Ruhe und innere Einkehr im alten Land sollen die Belohnung für das stressige Vorangegangene sein. Weißwerth träumt von seiner eigenen Zeitschrift übers Landleben. Oberflächlich wie er ist, bildet er sich ein, einen persönlichen Zugang zu den Bauersleuten zu haben, die er doch in Wahrheit nur von oben herab und als Material für ein neues Buch betrachtet. Dirk zum Felde durchschaut dieses inszenierte Getue.
„Und er, der Bauern – Bimbo, der nicht bis drei zählen konnte und stumpf das böse Gift auf seine armen, armen Bäume spritzte, ….
nDiese Öko – Missionare konnten Boskoop nicht von Jonagold unterscheiden und hatten garantiert noch nie einen verwurmten, schorfigen Finkenwerder Herbstprinz gefressen, sonst wüssten sie, dass diese beschissenen alten Sorten völlig zu Recht ausstarben.“
An den alten Bauern jedoch geht der Bio-Wahn vorbei, Vera macht sowieso was sie will und Anne soll das alte Haus wieder „schier“ machen.
Alle Figuren in Dörte Hansens Roman suchen nach einem festen Hafen, einem Zuhause, das ihnen Sicherheit bietet. Sie finden diese innere Ruhe oder Bestätigung nicht in der Familie. Bestes Beispiel: Karl und Vera, nicht Vater und Tochter und doch aneinander gebunden und verbunden bis in den nicht selbst gewählten Tod.
Es ist der Stil dieses Buches, der fasziniert. In nur kurzen perfekt beobachteten Episoden, oft nur mit einem Satz ( „Schneewittchen im weißen Wagen, und hier saß Anne Kaffeekanne.“) wirft Dörte Hansen lakonisch kritisch einen Blick auf ihre Protagonisten. Niemand ist vollkommen, sie sind egoistisch, verknöchert, unsicher, lebenspraktisch, desillusioniert, überarbeitet oder auch offen für alles und doch ziellos. Und doch sind sie liebenswert und vor allem nach der Lektüre des Romans nicht so schnell vergessen.
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