Rachel McIntyre: Sternschnuppenstunden, Aus dem Englischen von Jessika Komina und Sandra Knuffinke, Magellan Verlag, Bamberg 2015, 304 Seiten, €16,95, 978-3-7348-5007-3
„Heute habe ich einen absoluten Tiefpunkt erreicht. Normalerweise bemühe ich mich so, das Glas halb voll zu sehen, dass ich das meiste irgendwie durchstehe. Aber jetzt bin ich am Boden zerstört, dass er weg ist, mein Schutzschild gegen die ganze Scheiße, die im Bus und zu Hause auf mich zugeflogen kommt. Mein iPod. Sam Short, du Arschloch.“
Was die fünfzehnjährige Lara Tittle, von allen nur hämisch „Titte“ genannt, durchstehen muss, kann sie nur ihrem Tagebuch anvertrauen. Mit ihren roten Haaren ist das Mädchen, auch wenn sie Karate macht, Prellbock für alle Mitschüler, besonders für die Gang um die hirnlose, aber mit reichen Eltern gesegnete Molly. Die Schülerinnen einer privaten Mädchenschule mobben Lara im Schulbus mit kräftiger Unterstützung der Jungen, im Unterricht und auf dem Heimweg. Lara trägt es mit Fassung und sie begeht den immensen Fehler, mit Wortwitz und vor allem Geistesschärfe ihren Widersacherinnen gekonnt Paroli zu bieten. Die verbalen Attacken gegen Lara steigern sich jedoch im Laufe der Zeit in brutale Übergriffe, die sorgfältig gefilmt werden, um sie ins Netz zu stellen.
Lara ist in einer prekären Situation. Ihr Vater mussten vor zwei Jahren mit seiner Firma Insolvenz anmelden und nun ist die Familie die soziale Leiter blitzschnell hinabgestiegen. Laras Mutter putzt bei Mollys Eltern und der Hohn und Spott darüber ist Schulgespräch. Lara versucht alles Niederschmetternde mit Humor hinweg zu schreiben. Doch liest man die Schilderungen der perfiden Demütigungen, die Lara hinnehmen muss, trotz sarkastischer und ironischer Bemerkungen der Ich-Erzählerin, so dreht sich einem der Magen um.
Und Lara sitzt in der Falle, denn bei allem Schmutz, der über sie öffentlich ausgekippt wird, kann sie sich nach einem erneuten Zusammenstoß mit Molly nicht mehr wehren. Ihre fiese Mitschülerin droht damit, Laras Mutter zu unterstellen, dass sie in ihrem Zimmer gestohlen habe und dann wäre sie ihre Arbeit los. Und Lara weiß, dass die Mutter diesen Job unbedingt benötigt. Laras Vater ertränkt sein Selbstmitleid in Alkohol und die Mutter wird immer grantiger und unzugänglicher. Nur mit Mühen trägt die Familie das „finanzielle Opfer“ Privatschule. Lara hat ausgezeichnete Leistungen, besonders in englischer Literatur. Der neue Lehrer in diesem Fach, eine Mischung aus Edward Cullen und Mr Darcy, haut alle Mädchen um. Ben Jagger ist jung, gutaussehend, mitfühlend und Anfänger. Er beobachtet wie die Mädchen Lara in die Außenseiterposition drängen, sogar Chloe, einst Laras beste Freundin ist zum Lager der Hyänen übergelaufen. Lara selbst nennt sich „die Königin der Unberührbaren“ und schreibt sich so den Kummer von der Seele. Jagger, der Laras Schreibtalent vor den anderen herausstellt, möchte, dass Lara ihm bei der Vorbereitung der Talentshow an der Schule hilft. Sie ist, wie alle Mädchen, über beide Ohren in den Lehrer verknallt und gibt ihr Bestes trotz „Aussätzigen-Status“.
Da Lara Zeitungen austrägt, kann sie sich endlich ein Fahrrad kaufen. So entzieht sie sich dem täglichen Bushorror und allen schrecklichen Attacken. Und doch, Mollys Freund, der zu klein geratene Sam, hat es auf Lara abgesehen. Er tritt ihren heißgeliebten iPod kaputt und er schickt ihr Drohungen per SMS. Er quält sie, versucht ihre Haare in Brand zu stecken und richtet gemeinsam mit Molly & Co. eine Website ein, die Lara nach dem Leben trachtet. Laras Vergehen, sie hat Sam einen „Kampfhamster“ genannt und sich darüber lustig gemacht, dass er Schuppen hat.
Es ist beim Lesen kaum auszuhalten, was Lara in der Schule durchstehen muss. Nach dem Talentwettbewerb muss sie entdecken, dass ihre Feinde ihr Fahrrad demoliert haben. Inzwischen sind ihre verarmten Eltern an dem Punkt, wo sie kein vernünftiges Wort mehr miteinander reden können und nur noch streiten oder schreien. Lara hat die Tabletten, mit denen sie ihrem Leben ein Ende setzen könnte, schon gesammelt.
Als Ben Jagger beginnt zu verstehen, was Lara angetan wird, hat er sich bereits in das dürre, aber ziemlich kluge Mädchen verguckt. Aber er achtet nicht auf die klaren Grenzen zwischen Schülerin und Lehrer. Lara kann sich ihren Eltern nicht anvertrauen, diese haben nur mit sich zu tun und kaum noch Kraft für ihr Kind. Ben ist ihre Rettung, denn er zeigt ihr, dass sie nicht hässlich ist, keine Schuld an dem widerlichen Verhalten ihrer Mitschüler trägt, sondern eine begehrenswerte Frau. Sein Handeln jedoch ist kriminell und in einem kleinen Ort schnell bekannt. Die Beziehung der beiden bleibt nicht unbeobachtet. Als Ben Jagger Sam schlägt, nachdem er die Facebook-Seite mit den Todesdrohungen gegen Lara und den diffamierenden Videos entdeckt, eskaliert die Geschichte.
Sprachlich atemberaubend, schonungslos und voller Tempo liest sich das Tagebuch Laras, die glaubt, sie müsse mit allem allein fertig werden. Durch das Schreiben versucht sie eine innere Abwehr aufzubauen, um alle Demütigungen in treffenden Formulierungen zu verharmlosen. Entstanden ist ein Feuerwerk an Komik und Witz, wäre die Realität für sie nicht so tragisch. Lara wahrt ihre Würde, auch wenn sie angespuckt, getreten und öffentlich mit Gewalt entblößt wird.
Wie immer fragt man sich bei diesen Mobbing-Geschichten wie mitleidlos eine Gruppe sein kann, die sich eine Person als Hassobjekt ausgesucht hat, um diese zu zerstören. Wieder, außer der unerfahrene und völlig falsch handelnde Mr Jagger, schauen alle Lehrer weg und auch die Eltern bemerken nicht die inneren Qualen der Tochter.
Die englische Autorin Rachel McIntyre hat sich eine radikale, aber auch berührende Geschichte ausgedacht, die gesellschaftlich kritische Beobachtungen einfließen lässt und glaubwürdig ist.
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