Matthew Thomas: Wir sind nicht wir, Aus dem Englischen von Astrid Becker und Karin Betz, Berlin Verlag, Berlin 2015, 893 Seiten, €24,99, 978-3-8270-1206-7
„Vor ihr lag ein schönes, ein amerikanisches Leben, wenn Ed nur den Weg einschlug, den sie für ihn abgesteckt hatte. ‚Ein Tag nach dem anderen‘, sagte ihre Mutter. Und Eileen dachte: Und alles auf einmal.“
Eileen Tumulty, die Hauptfigur dieses fulminanten Romans, wird 1941 in eine irische Familie, die in New York, Queens, lebt, hineingeboren. Hatte ihre Mutter zwölf Geschwister und ihr Vater elf, so ist sie ein Einzelkind, aber mit großer Familie. Konfliktreich ist die Ehe ihrer Eltern. Alkohol spielt in ihrer Kindheit eine große Rolle, die außerordentliche Stellung, die ihr Vater im Bekanntenkreis einnimmt und die Kühle der Mutter. Als die Mutter eine Fehlgeburt erleiden muss, da ist Eileen elf Jahre alt, übernimmt das Kind den Haushalt. Als die Mutter nach acht Monaten aus dem Krankenhaus in dem Wissen zurückkehrt, dass sie keine weiteren Kinder haben wird, war Eileen der Meinung, sie würde die Mutter nie wieder sehen. Nie umarmt die Mutter ihr Kind, sie geht zur Arbeit und abends sitzt sie auf dem Sofa, um zu trinken und zu rauchen, jahrelang. Eileen schält sich aus dieser Familie heraus, setzt sich Ziele und kümmert sich um alles. Sie arbeitet hart für die Schule, erringt Stipendien und hat einen Traum. Sie will einen vernünftigen Mann kennenlernen, Kinder bekommen und als erste aus ihrer Familien in einem eigenen Haus leben. Als Eileens Mutter nach einem Zusammenbruch bei den Anonymen Alkoholikern landet, hat sie das ihrer Tochter zu verdanken.
Der amerikanische Autor Matthew Thomas schlägt ein Kapitel nach dem anderen in Eileens Leben auf. Sie geht zum College, absolviert ihren Master in Pflegedienstleister an den New York University und sie lernt Edmund Leary kennen, einen ehrgeizigen und klugen Mann aus einfachen Verhältnissen.
„Er war weder langweilig noch feige. Was war er dann? Einfühlsam war das einzige Wort, das es zu treffen schien, so erstaunlich das auch sein mochte: Er war ein einfühlsamer Mann. Er nahm alles in sich auf.“
Alle Hoffnungen, die Eileen in Ed setzt, verschwinden nach und nach. Er ist ein gnadenloser Arbeiter und er ist besessen von seiner Forschungsarbeit als Gehirnexperte. Er unterrichtet, er forscht und er interessiert sich nicht die Spur für seine Karriere. Und Ed ist ein Mensch, der nie etwas für sich fordert und somit auch denkt, andere Menschen wären auch so. Er ist gegen jegliches Geldausgeben, dabei arbeitet Eileen ebenfalls den ganzen Tag und denkt nicht daran, auf alles zu verzichten.
„Was auf eine liebenswerte Art und Weise von seiner Unabhängigkeit gezeugt hatte, hielt sie jetzt nur noch für kleinkariert und selbstzerstörerisch.“
Eileen und Ed führen nicht die glücklichste Ehe und doch finden die beiden immer wieder einen Weg zueinander. Mit einunddreißig Jahren beschließt Eileen, die sowieso den Ton in der Ehe angibt, schwanger zu werden. Eine Fehlgeburt nimmt ihr die Hoffnung, endlich doch ein Kind zu bekommen. Ed reagiert kaum auf die inneren Konflikte seiner Frau. Beide stürzen sich in die Arbeit, er wird sehr jung ordentlicher Professor und sie Leiterin der Pflegestation. Immer wieder drängt Eileen Ed dazu, zumindest einen Dekanposten anzustreben oder in die Medikamentenforschung zu gehen, um besser zu verdienen. Aber Ed verweigert sich in diesem Punkt seiner Frau. Er beginnt an der NYU, Abendkurse in Anatomie zu geben.
Als dann 1977 endlich Connell geboren wird, konzentriert sich Eileen nur noch auf ihren Sohn. Sie geht weiterhin Vollzeit arbeiten und doch wird er ihr Ein und Alles.
„Es gab keine Worte für ihre Glückseligkeit, keine Worte dafür, was für eine Freude eine Frau wie sie, am Dasein ihres kleinen Jungen haben konnte. Natürlich würde das nicht so bleiben, bald genug würde sie Ansprüche an ihn stellen, sich einfach alles von ihm erhoffen.“
Eileen ist die Pragmatikerin, Ed der Idealist. Connell wird ein extrem guter Schüler, aber er schlingt alles Essen in sich hinein. Durch seine Körperfülle und seine guten Noten wird er zum Mobbingopfer in der Schule, denn Connell wehrt sich nicht. So sehr die Mutter am Sohn hängt, ihre Gefühle kann sie ihm nie zeigen. Sie fordert vieles von ihm und von Ed, der seinem Sohn emotional sehr nah ist. Er ist einfach nur froh, dass Connell da ist, lässt ihm alles durchgehen und wirft mit ihm ein paar Bälle.
Und dann beginnt ab 1991 die wohl schwerste Zeit, die die Familie durchstehen muss. Langsam mehren sich die Anzeichen. Ed wird immer müder, kontrolliert sich ständig, hat Angst Fehler zu machen und wird aggressiv und ausfallend, wenn irgendetwas nicht klappt. In anschaulichen Szenen erzählt der Autor von einem Menschen, dessen Persönlichkeit sich langsam wandelt, der nach den gewaltsamen Ausbrüchen sich selbst nicht mehr erkennt. Der Gehirnforscher, dessen Leben nur aus geistiger Arbeit bestand, erkrankt an Alzheimer mit einundfünfzig Jahren.
Es gibt Momente, in denen sich Connell für seinen Vater schämt, Augenblicke in denen er angeschrien wird und wieder Momente der tiefsten Zuneigung.
Eileen schafft es endlich, nachdem sie sich ihren Traum vom eigenen großen allerdings renovierungsbedürftigen Haus erfüllt hat, ihren Mann mit Vorahnungen zum Neurologen zu bringen.
Wie kann es sein, dass er so ein „Arschloch“ geworden ist? Die Diagnose überrascht Ed wenig. Eileen, die alles besser machen wollte als ihre Eltern, die darauf bedacht war, sich ihre Position in der Mittelschicht zu erobern, ahnt was auf sie zukommen wird und sie wird alle Stadien der Krankheit mit Ed durchleben. Den Rat des Anwaltes sich von Ed scheiden zu lassen, damit ihre Vermögenswerte nicht angetastet werden und Medicaid einspringt, hört sich Eileen nur kopfschüttelnd an. Nicht lang können Ed und Eileen die Krankheit vor Connell und den Freunden geheim halten. Die Männer ziehen sich alle aus Unsicherheit vor Ed zurück.
Eileen beginnt ein gegenläufiges Kindertagebuch zu schreiben.
Connell zieht sich ganz aus dem Familienleben zurück, er vermag es nicht, dem Vater zu helfen. Erst am Ende der langen oft qualvollen Familiengeschichte wird er so einiges verstehen.
„Empathie. Dazu war er nicht immer imstande gewesen. Es war ein Muskel, den man erst entwickeln und dann in Form halten musste.“
Matthew Thomas ist ein begnadeter Erzähler, der in diesem Roman ein ganzes amerikanisches Frauen- und Familienleben aus verschiedenen Perspektiven, aber meistens aus Eileens Sicht, aufblättert. In vielen Episoden und genauen Beobachtungen setzen sich Szenen zusammen, die dem Leser fast bildlich vor Augen stehen. Die starke Eileen ist der Fels in der Brandung und manchmal wünscht man ihr jemanden an die Seite, der sie hält und ihr sagt, alles wird gut.
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