Kate de Goldi: Die Anarchie der Buchstaben, Mit Illustrationen von Gregory O’Brien, Aus dem Englischen von Ingo Herzke, Königskinder Verlag, Hamburg 2014, 151 Seiten, €13,90, 978-3-551-56003-2

Audrey nahm Oma am Arm. „Sollen wir schauen, ob es Nachmittagstee gibt? Wollen doch mal sehen, was Perry heute mitgebracht hat.“

„Wer ist Perry?“, fragte Oma.

„Deine Enkelin!“, rief Perry, als Oma zur Speisesaaltür eilte.

„Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist Geschrei!“, schrie Oma.

Perry ist ein vielbeschäftigtes Mädchen, denn ihre intellektuellen Eltern sind der Meinung, auch nach der Schule ist Beschäftigung und Kontakt zu Menschen sehr wichtig.
Und so erhält sie am Montag Klavierunterricht, am Dienstag Förderunterricht, am Mittwoch übt sie Klarinette, auch mit wenig Talent, und am Donnerstag fällt die bisherige Beschäftigung im Gemeindezentrum aus und Perry beschließt, ihre Oma zu besuchen. Dass sie eine Oma hat, die Honora Lee heißt, weiß sie erst seit Kurzem.
Perrys Vater, der Sohn von Honora, hat wenig Lust die Mutter im Pflegeheim Santa Lucia zu besuchen, denn sie leidet unter starkem Gedächtnisabbau.
Immer wieder glaubt die Großmutter, dass Perry ein Junge sei, ihre Schüler gleich kämen und sie rund um die Uhr beschäftigt ist. Schwierig ist so ein Gespräch mit der Oma, denn sie läuft immer schnell fort und holt sich blaue Flecken.
Aber Perry nimmt unvoreingenommen Omas unfreundliche, manchmal wirklich patzige Art einfach hin, redet trotzdem mit ihr und ärgert sich doch, weil die Oma nicht weiß, wie man richtig Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst spielen kann.
Da die Oma Süßes mag und auch Schwester Audrey nie widerstehen kann, bringt Perry gern Kuchen mit. Alles was das Mädchen mit den alten Leuten erlebt, hält sie in eigenwilligen Bildern fest.
Und dann denkt sich Perry ein Projekt aus, dass sie auch gleich in der Schule zeigen kann. Sie beschließt mit der Oma, die auch ganz gern zählt, auch wenn es nicht immer so richtig klappt, ein Alphabetbuch zusammenzustellen. Alle 26 Buchstaben und die entsprechenden Worte sollen sich um den Wohnort der Oma drehen und auch ein bisschen um Perry.
Schön geordnet beginnt Perry mit dem A, aber da im Kopf der alten Leute vieles durcheinanderpurzelt, gibt das Mädchen die strenge Suche von A bis Z erst mal auf und sammelt Vorschläge, z. B. D wie Despotin, R wie reizbar oder auch R wie reizend oder V wie Viktor. Immer wenn die Oma Namen nennt oder Erinnerungsfetzen aufblitzen, fragt Perry ihre Eltern und die wissen dann meistens, worum es sich dreht. Viktor war wohl eines der Pferde von der Oma, die diese Tiere über alles liebte.
Das anarchische, ja leicht chaotische ACB-Buch nimmt langsam Gestalt an, denn Perry zeichnet zu allen Wörtern die passenden Bilder.
Nur ein einziges Mal begleitet Perrys Vater die Tochter ins Santa Lucia und ärgert sich, dass die Mutter ihn nicht erkennt. Doch Perry tröstet ihn, denn sie ist der Meinung, die Oma wissen eben andere Dinge, sie kennt Rätsel, Redewendungen und Zitate aus Shakespeare – Dramen.

Mit ihrer Fröhlichkeit bezaubert Perry die alten Leuten, aber auch das Personal im Altersheim. Auf dem Weg zum Santa Lucia sammelt Perry tote Hummeln, die nur eine kurze Lebensdauer haben und in ihrer Zeit auf der Erde fleißig die Blumen bestäuben. Am Ende werden sie ehrenvoll beerdigt.

Berührend liest sich diese schwungvolle Geschichte über das Leben und den Tod der neuseeländischen Autorin Kate de Goldi, die ja bereits mit ihrem Jugendroman „abends um 10“ viele junge Leser in ihren Bann gezogen hat. Auch wenn die Themen Krankheit und Sterben im Hintergrund mitschwingen, im Vordergrund steht der Spaß an Worten, Wortschöpfungen und dem Zusammensein mit der grantigen Oma und den anderen Bewohnern des Pflegeheims.
Witzig und vielleicht auch als Anregung zum Nachmachen gedacht sind die Zeichnungen von Gregory O’Brien, die Perrys Gedanken einfangen.