Jon Bauer: Steine im Bauch, Aus dem Englischen von Bernhard Robben, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014, 386 Seiten, €19,99, 978-3-462-04652-6

„Der zweite supergute Spitzenmoment in meinem Leben war, als ich mich mal übergeben musste und Mum mich zu sich und Dad ins Bett gelassen hat, und der Fernseher war an, irgendetwas über Delfine, und wir haben zusammen geknuddelt. Zusammen ist mein Lieblingswort.“

Richtig glücklich ist der Ich-Erzähler, dessen wahrer Name nie genannt wird, nur, wenn er mit seinen Eltern allein ist und kein Pflegekind die Mutter Mary vereinnahmt. Aber diese Zeiten sind wirklich selten, denn ein frecher, aufmüpfiger Junge löst den nächsten ab, bis Robert kommt. Robert ist der Junge, der so gern in die Wolken schaut, er ist sanft, ruhig, verständnisvoll und klug. Er beschimpft den Erzähler in einem leisen Ton, damit die Mutter ihn nie hört. Bei Robert erklingt nie die „Pflegekindstimme“ der Mutter. Der Erzähler empfindet die Jungen im Haus, nie nimmt die Mutter ein Mädchen auf, als Konkurrenz. Er behauptet sogar in der Schule, das er das Pflegekind sei. Jede Nacht nässt der Junge sich ein, spürt die Sympathie für Robert seitens der Mutter und handelt, um Aufmerksamkeit zu erlangen, völlig irrational. Als der Vater für Robert, nie für ihn, den Kamin entzündet, hält der Erzähler provokant seine Hand ins Feuer. Ein Hilfeschrei.

In Rückblenden erinnert sich der 28- jährige Erzähler, der nach sieben Jahren aus Kanada heimgekehrt ist, an seine Kindheit. Der Vater ist längst verstorben, auch Robert ist tot. Mutter Mary leidet an einem Hirntumor, kann kaum noch sprechen und die Pflegerin erwähnt immer öfter das Hospiz. Nach und nach erschließt sich dem Leser, was wirklich geschehen ist als der Erzähler, der durch seine Kinderjahre schwer traumatisiert ist, acht Jahre alt war. Klar wird, der Erzähler hat Schuld auf sich geladen und er will endlich sprechen. Aber die Mutter kann ihn nicht mehr hören.

Doch warum hat die Mutter Pflegekinder betreut? Vielleicht aus finanziellen Erwägungen oder doch eher aus dem selbstlosen oder egoistischen Gefühl heraus, anderen helfen zu müssen. Wie oft musste sich der Erzähler anhören, dass es ihm gut ginge, aber die Jungen mit ihren kaputten Familien müssten leiden.

Die Eltern des Erzählers erkennen den Kummer des eigenen Kindes, gehen mit ihm zum Psychologen und stellen ihm einen Fernseher ins Zimmer. Nie darf Robert mit ihm fernsehen und sein Zimmer ist eine absolute Tabuzone, aber Robert, den seine Eltern, so das Vorstellungsbild des Erzählers, wie einen Kuckuck in ein fremdes Nest gelegt haben, umgeht diese Verbote. Auch der leibliche Sohn der Familie lebt seine Gemeinheiten an den Eindringlingen aus. Als der 13-jährige Robert dann auch noch der Pflegemutter das Leben rettet, weiß der Erzähler, dass er, wenn die Mutter das Krankenhaus verlässt, nun wirklich an zweiter Stelle stehen wird.

Und dann gesteht der Erzähler seiner totkranken Mutter, die ihn für Robert hält, dass er das geliebte Pflegekind damals so zugerichtet habe. Denn Robert hatte einen Unfall und musste danach spastisch gelähmt im Rollstuhl sitzen. Eine Tragödie. Voller Aufopferung hat die Mutter sich sechs Jahre bis zu seinem Tod um Robert gekümmert. Seine wahren Eltern, Alkoholiker, beschuldigten die Pflegeeltern ihre Aufsichtspflicht vernachlässigt zu haben. Ein Gericht jedoch sprach sie frei. \r\nBis in das Erwachsenenalter hinein kann der Erzähler seiner Mutter nicht verzeihen, die die ihn doch irgendwie liebte.

„ Denn Mum und Robert zusammen, das ist, als wäre man im Dunkeln.“

Jon Bauer findet einen eindringlichen, unsentimentalen Erzählton, denn alles was der Sohn erinnert, steht im Präsens, als wäre es die Gegenwart. Der Abschied von der Mutter innerlich wie äußerlich bleibt ein großer Schmerz, den der Leser nachvollziehen kann. An Nebenschauplätzen der Handlung bemerkt man, wie gebrochen der Sohn durch sein Kindheitstrauma ist. Man mag die Figuren von Jon Bauer, der heute in Australien lebt, nicht sympathisch finden, aber das muss auch nicht sein. Aufwühlend und lesenswert ist dieses Debüt allemal – sprachsicher und gefühlsecht.