Karin Fossum: Schlafe, mein Prinzchen, schlaf ein, Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, Berlin Verlag, Berlin 2014, 286 Seiten, €9,90, 978-3-8333-0993-9

„Es war, als ob etwas passieren würde, er wusste nicht, was, aber er hatte eine Vorahnung. Etwas Düsteres stieg in ihm auf, und dieses Etwas verdunkelte sein Gemüt. Nicht nur die schwere Trauer um Tommy, sondern etwas anderes, etwas Schicksalhaftes, etwas Schreckliches.“

Tommy, ein 18 Monate altes Kind, ist ums Leben gekommen. Unweit vom See liegt das Haus seiner Eltern und in einem unbeobachteten Moment ist der Junge zum Wasser gelaufen und hineingefallen, so die erste Aussage der Mutter Carmen. Früh haben Carmen und Nicolai geheiratet, werden von Carmens Eltern finanziell und in allen Lebenslagen unterstützt und müssen nun mit diesem Schicksalsschlag zurechtkommen. Tommy wurde mit dem Down-Syndrom geboren und als der Arzt den Eltern kurz nach der Geburt die Wahrheit sagen musste, hat Carmen ihm vehement widersprochen und geglaubt, wenn sie es nur laut verneint, ist es auch nicht wahr. Im Grunde hat sich die junge Mutter für den „Idioten“ vor den Leuten geschämt, sie konnte nicht verstehen, warum sie so ein Kind bekommen musste. Nicolai jedoch trauert zutiefst um seinen Sohn, den er trotz anfänglichem Schock liebevoll angenommen hat.

Mantrartig redet sich Carmen ein, auch ihr dominanter Vater sieht es so, dass sie stark ist und gewohnt, dass ihr Wille zählt und nichts anderes. Nicolai dagegen ist ein nachdenklicher, melancholischer Mensch, der sich an seiner Frau aufrichtet und jeder kritischen Diskussion aus dem Weg geht.
Carmen erscheint äußerlich, und das ahnt der Leser ziemlich schnell, als der Engel mit den weißblonden Haaren, in ihrem Inneren jedoch lauert eine schwarze, gewissenlose Seele. Hinter der überirdischen Fassade versteckt sich ein verzogenes, patziges, egoistisches und verantwortungsloses Kind, das gefühlskalt und voller Selbstmitleid sich seine eigene Welt zurechtzimmert.

Kommissar Konrad Sejer ahnt ziemlich schnell, dass mit der Trauer der jungen, zarten Frau irgendetwas nicht stimmt. Karin Fossum gewährt einen Einblick in den Ehealltag der beiden so unterschiedlichen Menschen. Aber auch Sejer lebt mit seiner Trauer um seine zu früh verstorbene Frau und der eigenen Angst um seinen gesundheitlichen Zustand, denn Schwindelanfälle beeinträchtigen neuerdings seinen Alltag.

Carmen packt unglaublich schnell nach dem Tod des eigenen Kindes sein Spielzeug, sein Kinderbett und seine Sachen zusammen, um sie fortzugeben. Sie geht ohne zu zögern zur Tagesordnung über, erzählt von einem neuen, gesunden Kind und im Laufe der Geschichte sogar von einem Hundebaby, das sie nun haben möchte. Nicolai entfernt sich innerlich immer mehr von seiner Frau, die auf Knopfdruck tränenreich heulen kann und ihm langsam unheimlich wird.

Auch wenn Sejer anfänglich Mitleid mit dem jungen Paar hat, so spürt er doch, dass Carmens Geschichte nicht vollständig ist. Die Obduktion bringt es dann ans Licht. Tommy hatte zum Todeszeitpunkt Seifenwasser in den Lungen. Carmens Kartenhaus voller Lügen bricht unweigerlich zusammen und sie muss zugeben, dass Tommy nicht im See am Haus ertrunken ist, sondern in der Badewanne. Voller Panik vor einer Strafe hat die Mutter ihr Kind in den See geworfen, um ihr Versagen zu vertuschen. Und Carmen kann sich geschickt herausreden, denn sie ist Epileptikerin. Ein Anfall während des Badens hat sie so aus der Bahn geworfen, dass sie sich nicht mehr um ihr Kind kümmern konnte. Sejer nimmt ihr diese Geschichte nicht ab und muss Ärzte konsultieren, auch in eigener Sache.

Verblüffend ist, dass die junge Frau sich nicht schuldig fühlt, auch nicht am Tod ihres zerbrochenen Mannes, der in seiner Verzweiflung um Kind und Frau keinen anderen Ausweg mehr sieht. In ihrem Tagebuch gibt Carmen unumwunden Auskunft über ihre widersprüchlichen Gefühle und ihre Zukunftsträume. Wenn sie jemand genau kannte, dann ihr Mann.

In der psychologisch tief ausgeloteten Krimi-Geschichte von Karin Fossum kann sich Sejer nicht zurückhalten und fragt sich und andere, ob sie ein Kind mit Down-Syndrom gewollt hätten. Alle sind sich einig, dass sie trotz langer Gewissenskämpfe sich dagegen entschieden hätten. Doch welche Wahl haben Mütter oder Väter, wenn ein behindertes Kind geboren wurde? Gibt es diesen Anspruch auf ein Lebensglück ohne Konflikte um jeden Preis?
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