Sabine Friedrich: Familiensilber, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2014, 573 Seiten, €10.95, 978-3-42321538-1
„Das war es doch, was eine Familie war : Menschen verschiedenen Alters, verschiedener Generationen, verschiedenen Charakters und Einkommens und ganz verschiedener Interessen, die sich zusammengehörig fühlten, weil die wichtigsten Ereignisse sie alle betrafen: Geburten, Taufen, Hochzeiten und Sterbefälle.“
Neu aufgelegt wurde der Roman von Sabine Friedrich aus dem Jahr 2007, denn es bleibt ein Dauerthema, diese biografisch grundierten Geschichten aus Deutsch-Deutschland, die Generationenromane, die zurückreichen bis ins Dritte Reich und sich bis in die Gegenwart erstrecken. Gernot und Barbara Lehman feiern ihre Silberhochzeit. Da Barbara demnächst ihren 50. Geburtstag begehen wird, hat sie beschlossen, sich um alles selbst zu kümmern und in der Scheune hinterm Haus die Festtafel aufzubauen. Gernot wollte sie und ihre Familie, seine Verwandten erscheinen nicht, ins Schlosshotel einladen, aber Barbara hatte kategorisch abgelehnt. Zwischen den Eheleuten herrscht ein seltsam angespannter Ton, ein „Kampfgebiet“, in dem nicht mal die Tochter Sarah schlichten kann. Immer schwingen Vorwürfe in den Dialogen mit, immer fühlt sich einer überfordert. Barbara, die mittlerweile wieder in einer Zeitungsredaktion arbeitet, erhofft von ihrem Mann, der als Anwalt tätig ist, mehr Unterstützung. Gernot dagegen nervt die ewige Meckerei und Unzufriedenheit seiner Frau, ihre Überaktivität und ihre Mischpoke. Zahlreich sind die Mitglieder ihrer Familie, die vier Generationen umfasst, Geschwister, Mütter, Väter, Halbgeschwister, Cousinen, Schwäger, Schwägerinnen, Onkel, Tanten und Großeltern. Da sind die Angepassten, die alles richtig machen, aber auch die bunten Vögel, die einfach nicht klar kommen. Es geht um das, was immer wieder erzählt wird und um Ereignisse, die immer umschifft und nie angesprochen werden. Einst sind die Urgroßtanten am Ende des Krieges aus Gdansk nach Neuendorf geflohen. Wobei sie ihr Familiensilber in den Gärten verbuddelt haben, an deren Zäunen sie nun Jahre später stehen. Dabei bleibt die Stadt an der Ostsee für die Familie Jaschke ein Sehnsuchtsgebiet, ein Bullerbü voller Verklärungen, aber auch Schmerz, denn Marie, Barbaras Mutter, hat auf der Flucht die Hand ihres kleinen Bruders Fritz losgelassen.
Gebetsmühlenartig wird Tante Grete bei jeder Festivität auf den armen Fritz zurückkommen, der von Stund an verschollen war.
Sabine Friedrich stellt nach und nach alle Familienmitglieder vor und geht in den Erinnerungen bis tief in die Vergangenheit zurück. Aber sie erzählt nicht chronologisch die Abfolge der Geschehnisse, sondern springt in den Zeiten. Was erwarten die einzelnen Figuren von ihrem Leben, wo haben sie ihr Glück gefunden, wo sind sie gescheitert?
Das schwarze Schaf in der Familie ist der Lebenskünstler und Sprücheklopfer Harry, der Sohn von Gerda und Holger Siebert und Cousin von Barbara. Er war sogar im Gefängnis aufgrund eines Drogendeliktes, hat sein verstörtes Kind nach dem Freitod oder Unfall seiner Frau Gitti beim Onkel abgegeben und buhlt nun um die Sympathie der erwachsenen Tochter. Sein Bruder Thomas jedoch, zwar geschieden und in zweiter Ehe mit der ewig nörgelnden Christa verheiratet, ist die Lichtgestalt in der Familie. Gut im Geschäft nach der Wende jedoch verspekuliert er sich mit einer Immobilie in Thüringen und steht vor dem finanziellen Abgrund.
Eine wirklichkeitsnahe Geschichte reiht sich an die nächste und jedes Familienmitglied möchte einfach gut vor den anderen dastehen, dabei haben sich schon alle eine Meinung gebildet. Es geht um Abhängigkeiten, Erwachsenwerden, die Illusion der Zugehörigkeit, Lebenslügen und vor allem um die Frage, was hält eine Familie zusammen. Sind es die ewig gleichen Geschichten, die die Großtanten zum besten geben? Sind es die gemeinsamen Erinnerungen an schwierige oder auch freudvolle Momente? Sind es Vertrauen und Halt in einer Gemeinschaft, mit der man blutsverwandt ist?
Auch wenn die Geschichte von der Silberhochzeit der Lehmanns in einem kleinen Ort spielt, holt die Autorin die weite Welt in die Geschichte hinein. So drehen sich die Gedanken von Karim, dem heimatlosen Freund von Sarah, der Tochter von Barbara und Gernot, um radikale Fragen des Islam und Vorstellungen, die die heile, westliche Welt in Schutt und Asche legt. Oder die Begegnung der Silberhochzeit ferngebliebener Verwandten von Gernot, bei denen in ihrem Garten in Spanien plötzlich ein dunkelhäutiger Flüchtling steht.
Lang gehütete Geheimnisse spült diese Familienfeier hervor, sind es verschwiegene Kinder oder falsche Väter. Enttäuscht, frustriert und abgekämpft kehren die Feiernden in den Alltag zurück, sich fragend, warum sie sich das alles antun und leben ihr Leben einfach nur weiter. Nur die rundliche Tante Anni hat keine Lust nach Hause gefahren zu werden, denn sie schläft ja kaum noch, schaut Phoenix die ganze Nacht und legt Patiencen.
Sabine Friedrichs Schreibweise ist eine wundersame Mischung aus einfühlendem Erzählen, präziser Beobachtung, herrlichen Sprachbildern und Empathie für ihre Figuren, die sie nie bloßstellt. Sie greift ins pralle Leben, zieht den Leser als Beobachter in die Höhen und Tiefen der Jaschkes, Siebeks oder Lehmanns hinein und erdrückt den Leser eventuell mit der Fülle des erzählten, detailreichen Stoffes. Und doch, man lebt und leidet mit den zahlreichen Protagonisten, erkennt sich als Leser in seinem Lebensweg vielleicht in einer wieder und liest mit Spannung von all den verschiedenen Lebensentwürfen, die ein Roman in seiner Gänze gar nicht erfassen kann.
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