Lisa Ballantyne: Der Schuldige, Aus dem Englischen von Benjamin Schwarz, btb Verlag, München 2014, 480 Seiten, €19,99, 978-3-442-75365-9
„Im Angesicht der Crolls spannten sich Daniels Muskeln an. Er spürte, dass unter dem farbigen Lack, der Seide und der edlen italienischen Wolle mit dieser Familie irgendetwas nicht stimmte.“\r\n\r\nAls Anwalt soll Daniel Hunter in einem Strafprozess den Fall des elfjährigen Sebastian Croll übernehmen. Dem strafmündigen Jungen wird zur Last gelegt, seinen drei Jahre jüngeren Freund, Ben Stoke, brutal ermordet zu haben. Bens Leiche wird, nachdem er mit Sebastian gesehen wurde, auf dem Abenteuerspielplatz gefunden.
Der Angreifer hat das Gesicht des Kindes mit einem Backstein zertrümmert.
Schwere Vorwürfe gegen ein Kind, doch viele Indizien sprechen gegen Sebastian, der im polizeilichen Verhör durchaus geistesgegenwärtig für sein Alter ein seltsam morbides Interesse an Blut oder Mord an den Tag legt. Sein Lächeln verunsichert auch Daniel Hunter, der an die Unschuld des Jungen glauben will und doch ein ungutes Gefühl bei diesem Klienten verspürt.
Gleichzeitig erinnert Sebastian ihn an sich als Elfjährigen. Allerdings stammt Daniel aus einem sozial völlig anderen Umfeld als Sebastian. Seine Mutter war drogenabhängig und nicht in der Lage, dem Kind ein Zuhause zu bieten. Seit seinem fünften Lebensjahr durchlief der einsame, sehr aggressive Junge Pflegefamilien und floh doch immer wieder zu seiner Mutter, die er beschützen wollte. Geschlagen von den Männern der Mutter landete er dann mit elf Jahren bei Minnie Flynn, einer ebenfalls vom Leben hart gestraften, aber bodenständigen Frau, die in Brampton eine kleine Farm betrieb.
Zu Beginn des Romans erfährt Daniel, dass Minnie, zu der er über fünfzehn Jahre keinen Kontakt mehr hatte, gestorben ist. Widerwillig reist er nach Brampton, denn es gab ein einschneidendes Zerwürfnis zwischen Minnie und ihm, das jegliche Versöhnung unmöglich machte. Erst nach Minnies Tod erfährt Daniel, den Minnie adoptiert hatte, warum Minnie zeitweilig so tieftraurig war. Er wusste, es hängt mit ihrer toten Tochter und dem verstorbenen Ehemann zusammen, aber Details konnte Minnie ihm nie erzählen.
Der Leser verfolgt nun Daniels Erinnerungen an seine Kindheitsgeschichte und den öffentlichen Prozess, der gegen Sebastian als „Engelmörder“, so nennt ihn die vorverurteilende Presse, angestrengt wird. Daniel ist schmerzhaft bewusst, dass er ohne Minnie jederzeit kriminelle Taten hätte begehen können. Sie hat ihm den emotionalen Halt und die Sicherheit gegeben, die ein Kind benötigt, um stabil aufwachsen zu können. Sebastians Zuhause jedoch bietet zwar alle materiellen Vorzüge, aber emotional leidet der Junge unter einer von Angststörungen geplagten Mutter und einem überheblichen, fordernden Vater, der offensichtlich seine Frau regelmäßig verprügelt. Sebastian ist in der Schule als rabiater Rabauke verschrien, die Mütter seiner Spielkameraden berichten von tyrannischen und körperlichen Übergriffen des Kindes.
Nach und nach bereut Daniel, dass er sich so konsequent von seiner Adoptivmutter Minnie abgewendet hat, die bis zum Schluss den Kontakt zu ihm suchte. Erst jetzt versteht Daniel mit fünfundreißig Jahren, warum sie so handeln musste.
Wie schwer Kinder an der Trennung von der Mutter leiden und wie leicht es ist, ihnen die Verantwortung für das Wohl der Erwachsenen aufzubürden, davon erzählt dieser Roman. Aber es geht auch um emotionale Vernachlässigung, elterliches Versagen und ein unbarmherziges, jedoch gesellschaftlich sanktioniertes Strafgericht, dass die kindliche Seele für immer zerstören könnte.
Daniel weiß, wenn Sebastian von den Geschworenen für schuldig befunden wird, dann ist das entscheidend für sein ganzes Leben.
Lisa Ballantyne ist ein spannender und vor allem psychologisch überzeugender Roman gelungen, der von wirklichkeitsnahen Schicksalen erzählt, realen gesellschaftlichen Tatsachen, wie Konflikten und den Leser doch sprachlos zurücklässt.
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