Mark Billingham: Die Lügen der anderen, Aus dem Englischen von Peter Torberg, Atrium Verlag, Hamburg 2014, 416 Seiten, €19,99, 978-3-85535-054-4

„Eigentlich doch blöd, diese Spielchen, die wir so spielen, oder? Die Konventionen, die uns auf Geheih und Verderb aneinanderbinden. Die Regeln, die uns zwingen, Dinge zu tun, die wir eigentlich gar nicht tun wollen: mit Leuten reden, die wir verachten, mit Leuten schlafen, die wir nicht mehr lieben oder bei denen wir befürchten, dass sie uns nicht mehr lieben.“

Vor acht Wochen haben sie sich an der Küste von Florida im wohlverdienten Urlaub kennengelernt, drei englische Paare aus London. Sie hängen in Bars ab, trinken zu viel, reden oberflächlichen Kram und geben vor, sie seien nun Freunde. Am Ende der Reise werden E-Mails mit dem Wissen ausgetauscht, dass man sich sowieso nie wiedersieht. Doch am allerletzten Tag in Sarasota verschwindet ein 14-jähriges Mädchen. Es ist Amber-Marie, die die sechs Engländer bei einem unverbindlichen Geplauder kennengelernt hatte. Durch ihre Behinderung geht der Teenager freudestrahlend ohne jegliche Bedenken auf Menschen zu. Alle werden nach ihren Alibis befragt und reisen in die Heimat zurück.
Als Angie dann per Mail ihre Urlaubsbekanntschaften zu einem Dinner einlädt, sagen alle nicht gerade begeistert, aber doch von Neugier angestachelt, zu. Nach und nach lernt der Leser die sechs Leute und ihre alltäglichen Lügen kennen, denn jedes Paar fühlt sich nun zu einer Gegeneinladung genötigt. Die rundliche Hausfrau Angie hat zwei eigene Kinder, die schon fast erwachsene Teenager sind. Ihr stets missgelaunter Mann Barry muss sich auf der Arbeit seinem Bruder unterordnen. Er vermisst seinen leiblichen Sohn, den die Mutter ihm vorenthält.

Marina und Dave sind noch frisch verliebt. Der nicht gerade attraktive Dave arbeitet als Computerspiele-Entwickler in einer Firma und die farbige Marina, die durchaus Männer anzieht, geht einer Halbtagstätigkeit als Sprechstundenhilfe nach. Sie schreibt und nimmt Schauspielunterricht. Daves christlicher Glaube und seine Anhänglichkeit beginnen Marina langsam zu nerven. Die pragmatische Sue ist Lehrerin und der ziemlich arrogante Ed, der immer nur sexistische Anspielungen parat hat, arbeitet als Vertreter eines Sachbuchverlages. Aber in Anbetracht der Veränderungen in der Verlagsbranche hat er wenig Aufträge und erwartet demnächst seine Entlassung. Thematisiert wird auf jedem Treffen, teils sensationslüstern, teils unangenehm berührend, natürlich auch der Mord an dem jungen Mädchen.

Einerseits gewinnt der Leser einen intimen Einblicken in die familiären Verhältnisse der sechs Protagonisten, andererseits verbreitet der Täter in einem Monolog seine Ansichten vom modernen Leben. Er hat Amber-Marie in seinen Wagen gelockt und erwürgt. Ein zweite Tat, wieder an einem behinderten Mädchen, wird in Kent folgen. Die ermittelnde Polizistin in England, eine ambitionierte junge Frau, wird auf die drei Paare angesetzt und findet heraus, dass einige Alibis der Männer einfach nicht stimmen können.
Dem Leser ist klar, einer aus der Gruppe der sechs Leute, muss der Mörder sein. Hier setzt die Sogwirkung dieses gut geschriebenen Thrillers an, denn Mark Billingham baut Szenen zu einer enormen Spannung auf, jedes Wort, jeder Satz könnte den allzu cleveren Täter enttarnen.

Reihum treffen sich die Paare nun zum Dinner und je mehr sie getrunken haben, um so mehr Sticheleien und Konflikte in den Zweierbeziehungen, aber auch untereinander kommen zum Vorschein. So ahmt die offensichtlich talentfreie Marina die Leute eher nach, als dass sie wirklich sich in eine Person hineinversetzen kann. Sue trägt schwer am Tod ihrer früh verstorbenen Tochter Emma. Ed hat einst eine Buchhändlerin vergewaltigt und ist nie zur Rechenschaft gezogen worden.
Zum Ende hin wird klar, keiner kennt den anderen, nicht mal seinen Partner.

Mark Billingham führt den Leser als exzellenter Beobachter der englischen Mittelschicht mit seinen Vermutungen geschickt mal in die Richtung und dann wieder in die andere. Nie ist er sich wirklich sicher, wer hinter den Morden stecken könnte und vor allem warum.