Güner Jasemin Balci: ArabQueen oder der Geschmack der Freiheit, S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M., 2010, 313 Seiten, €14, 95, 978-3-10-004814-1

„Mariam ärgerte sich, dass sie die ganze Zeit so blind gewesen war, dass sie es nicht schon vorher bemerkt hatte – diese Verlogenheit, in der alle lebten, von der alle wussten, von der aber nicht gesprochen werden durfte.“

Mariam und ihre jüngere Schwester Fatme wohnen mit ihren Eltern und den zwei Brüdern im Berliner Stadtteil Wedding. Als Sunniten leben sie nach jahrhundertealten Bräuchen und Pflichten, die der Vater als Sittenwächter, der ohne Arbeit die Hartz IV-Bezüge der Familie mit anderen Frauen durchbringt, mit brutaler Gewalt in der Familie durchdrückt. Die Mutter der Familie Omar ist Analphabetin und wurde zwecks Hochzeit aus dem fernen Ostanatolien nach Berlin geholt. Heftige Spannungen zwischen den Eheleuten, die Armut und die beobachtenden Blicke der besser gestellten Verwandtschaft sorgen für ein Klima der Lieblosigkeit, Wut, Angst, ständigen Kontrolle und Gewalt. Bildungsfern und nur auf die Familie orientiert kümmert die Mutter sich ohne Interesse oder Kenntnisse der deutschen Sprache nur um den Ruf der Töchter. Auf die Teilnahme am Unterricht und gute Noten für eine spätere Ausbildung legt die Familie keinen Wert, denn die Mädchen werden sowieso heiraten und dann fällt dem Ehemann jegliche Verantwortung zu. Beide Brüder zählen sich zu den Loosern. Ohne Ausbildung jobben sie gelegentlich illegal im Gemüsehandel des sittenstrengen, geizigen Onkels. Masud und Rafi dürfen ihren Leidenschaften folgen und sich mit Frauen treffen, auch wenn sie nicht zu dem hochgehaltenen Ehrbegriff der Familie passen. Zum Lügen und Täuschen müssen sie keine Fantasie entwickeln.

Zerrissen zwischen dem Leben deutscher Mädchen, Mariam und Fatme freunden sich mit Lena an, und ihrem eigenen voller Verbote und Vorschriften entwickeln die Mädchen ihre spezielle Perfektion im Lügen, um sich etwas von der Freiheit der anderen zu erobern. Nie über die Straßen ihres Kietzes hinausgekommen, geben sie sich ohne familiäre Beobachtung selbstbewusst und im Ton äußerst rüde, besonders wenn es um Männer geht.
Wieder zu Hause müssen sie vor den männlichen Familienmitgliedern kuschen und können nur in Gedanken sich eine Traumwelt zusammenspinnen, die mit einem künftigen realen Leben nichts zu tun haben wird. Im abgedunkelten Zimmer probieren die Mädchen freizügige Kleidung an, die sie sich hart erspart haben und nie den Eltern zeigen könnten.
„ArabQueen“ ist der stolze Username Mariams im Netlog und zeigt die Diskrepanz zwischen Selbstdarstellung und Wirklichkeit.
In vielen Episoden erzählt Güner Balci, die selbst im Bezirk Neukölln aufgewachsen ist, vom rechtlosen Dasein der jungen Mädchen und Frauen unter der Oberhoheit der Männer. Als Zeugin hat sie einen atmosphärisch dichten Tatsachenbericht geschrieben, denn sie kennt aus eigener Tätigkeit in einem Mädchentreff die Schicksale vieler junger Mädchen und Frauen.
Angelehnt an das Leben zweier Freundinnen wurde laut Vorwort der Roman geschrieben. Mariam droht die Zwangsheirat mit ihrem Cousin aus Anatolien. Sie wird an einen jungen Mann verschachert, der nach Deutschland geholt werden soll, um seiner eigenen Armut zu entfliehen.
Nach und nach registriert Mariam, auch durch ihre vom Jobcenter erzwungene Arbeit im Mädchenclub, wie anders ihr tägliches Leben sein könnte. Allerdings muss Mariam feststellen, dass sie unter ihren Leidensgenossinnen keine Hilfe erwarten kann, denn auch die Frauen haben ihre unterdrückte Position nie hinterfragt und fügen sich um des lieben Friedens Willen. Eingebleut wurde ihnen seit sie denken können, dass die anderen, die Ungläubigen, die Deutschen, moralisch verkommen sind und nur sie in Reinheit leben. Mariam schafft es, bedingt, sich über diese alten Denkweisen hinwegzusetzen. Da emotionale Bindungen, außer an die Schwester, weder an den Vater noch an die Mutter existieren, scheint der Ausbruch eine Alternative.
Mariam plant mit Hilfe der Leiterin des Mädchenclubs ihre Flucht.
Güner Balci zeichnet ein düsteres, ja fast mit allen Klischees besetztes Bild muslimischer, unterdrückter Frauen und will gleichzeitig zur Rebellion aufrufen und den jungen Mädchen, die in familiären Käfigen ausharren müssen bis der Ehemann aus der Türkei anreist, verdeutlichen, dass es andere Wege gibt, Rechte existieren, die sie einklagen können.