Karl Ove Knausgård: Spielen, Aus dem Norwegischen Paul Berf, Luchterhand Literaturverlag, München 2013, 567 Seiten, €22,90, 978-3-630-87412-8

„Nie vergeht die Zeit so schnell wie in der Kindheit, nie ist eine Stunde so kurz wie in ihr. Alles steht einem offen, und man läuft mal hierhin und mal dorthin, tut dies und tut das, und dann ist die Sonne untergegangen, … Aber gleichzeitig vergeht die Zeit auch nie so langsam wie in der Kindheit, niemals sonst ist eine Stunde so lang wie in ihr.“

Wie bereits in den Bänden „Sterben“ und „Lieben“ benutzt der norwegische Autor Karl Ove Knausgård ohne Rücksicht auf sein privates Umfeld oder gar den Leser sein eigenes Leben als Grundmaterial und erzählt im dritten Band realistisch von seinen Erinnerungen an die Kindheit in Tybakken.
Früh, bereits mit 20 Jahren, haben seine Eltern, der Vater ist Lehrer, die Mutter Krankenschwester, geheiratet und ein neues Haus bezogen. In der Neusiedlung werden Karl Ove und sein älterer Bruder Yngve groß. Hier ziehen sie mit ihren Freunden um die Häuser, gehen in die Schule, zum Schwimmverein, denken über Freundschaft nach, die erste Liebe, ihre Vorlieben fürs Lesen und Musikhören, interessieren sich für Mädchen und Fußball. Die frühen 1970er Jahre bis zum Eintritt ins Gymnasium und dem Umzug der Familie nach Kristiansand umfassen die genauen Erinnerungen des Autors.

Den ganz normalen Alltag als Abenteuer ab seinem sechsten Lebensjahr schildert Karl Ove Knausgård ohne Reflexionen aus einer erwachsenen Perspektive, aber dafür in aller Ausführlichkeit und epischen Breite. Alle Familien in der Siedlung haben Kinder und mit seinem Freund Geir entdeckt Karl Ove geheime Plätze, die nur die beiden kennen. Aber Geir mag auch den dicken, unbeholfenen Vemund, was Karl Ove nicht nachvollziehen kann. Mit Trond und anderen Jungen geht es auf Schatzsuche immer dem Regenbogen entgegen. Der Junge kommt mit schlechtem Gewissen zu spät zum Essen oder lebt in der Angst, die Eltern könnten herausfinden, dass er mit seinem Freund gezündelt hat. Versunken im Spiel werfen die Jungen Steine nach Autos, in der Vorstellung, sie würden sowieso nicht treffen. Doch dann beschädigt Karl Ove ein Auto und ein Riesenkrach ist zu erwarten.

Die dramatische Dynamik dieser Szenen werden von Karl Ove genau erinnert und ihm ist klar, auch das ist zu überstehen.
Rigide Verbote im Hause Knausgård, z.B. ist es den Kindern nicht erlaubt, den Fernseher anzustellen, im Haus zu rennen oder Freunde in die Wohnung einzuladen, bestimmen Karl Oves Kindheit, aber auch unbedingter Gehorsam, die panische Angst vor den Wutausbrüchen und für ein Kind nicht einschätzbaren Erwartungen des strengen Vaters.
Präzise und nachvollziehbar schildert der Autor, wie er als Kind körperlich und seelisch die Furcht vor dem autoritären Vater fürchtete und durchlebte.
Da Karl Ove noch bis ins Teenager-Alter schnell weinte, fühlte sich der ungeduldige Vater oft provoziert. Nie hat der Vater mit den Söhnen gespielt und Geburtstage wurden innerhalb der Familie recht lieblos gefeiert, aber nie mit Freunden.
Dabei leben die Eltern von Karl Ove kein für die Zeit stereotypisches Leben, sondern ein ziemlich modernes. Sie sind beide für den Hausputz zuständig und die Mutter geht einer sie ausfüllenden Arbeit nach. Und seltsamerweise verlaufen alle Aufenthalte bei den Eltern des Vaters ohne jeglichen Druck auf die Kinder oder die üblichen Verbote.

Rasend kann der Zorn des Vaters sein, besonders dann, wenn er mit den Kindern allein ist. Brutal wie gnadenlos und mit eisiger Kälte züchtigt er seine Söhne. Er pflegt keine Freundschaften und bleibt für Nachbarn oder Kollegen immer auf Abstand. Auch im Band „Sterben“ drehen sich die Erinnerungen um die tragische Vaterfigur, die sich im Haus der eigenen Mutter zu Tode säuft, aber auch Kindheits- und Jugenderinnerungen werden geschildert.

Im Band „Spielen“ konzentriert sich Karl Ove Knausgård konsequent auf die Erlebnisse in der Kindheit, ohne lange, rücksichtslose Reflexionen über Kunst, Sex, Sprache, Traum, den eigenen Wert oder Nichtwert, wie in „Sterben“ oder philosophische Exkurse wie in „Lieben“. Als würde Karl Ove Knausgård für „Spielen“ eine Tür öffnen, den Gedankenstrom fließen lassen und plötzlich steht er wieder als Kind in seiner Siedlung, sitzt am Tisch bei den Eltern oder tauscht mit dem Bruder Geheimnisse aus.

Immer wieder geraten die Schilderungen der Landschaften und Plätze zu ausufernd, als wäre die Kindheit angefüllt mit Zeit, die nie zu Ende geht. Der Autor beschreibt die Szenen mit Spielfreunden oder in der Familie, die durch ihre anschauliche Darstellung und die wörtliche Rede lebendig werden und ja fast bildlich vor Augen stehen. Man fühlt mit dem Jungen mit, der in seiner hilflosen Position den Erwachsenen gegenüber, die keine Empathie empfinden, einiges ausstehen muss. Aber Karl Ove, der ein emsiger Leser und fleißiger Schüler ist, der den Vater nicht enttäuschen will, entpuppt sich auch als Besserwisser und Neunmalkluger. Möglicherweise ist er auch einen Tick weiter als die anderen Freunde, aber er kehrt gern den Angeber heraus.
Vieles fehlt diesem Kind, denn es stellt fest, dass seine Großmutter, die Mutter seines Vaters, die Einzige ist, die ihn lang in den Arm nimmt.
Ist die Mutter in der Familie eher die Idealistin, so bleibt der Vater Pragmatiker.
Ein Fazit, das Karl Ove Knausgård über seine stille, ja in der Erinnerung fast unsichtbare Mutter zieht, klingt für sie fast entschuldigend: „All das, was Mütter für ihre Söhne tun, tat sie für uns.“

Als die Mutter für eine Weiterbildung in Oslo nur an den Wochenende zu Hause ist, beginnt für den Jungen „Vaters Finsternis“. Karl Ove beschleicht auch in seiner Hilflosigkeit gegenüber der Macht des Vaters die Sehnsucht, endlich erwachsen zu sein. Auch der Vater wird ein Jahr nur sporadisch zu Hause sein, sich aber durch die einsamen Abende das Trinken angewöhnen.

Indem Karl Ove Knausgård nur die Familienkonstellationen begutachtet, von seinen Empfindungen, ob nun zu den Eltern, den Freunden oder Freundinnen berichtet, entsteht ein Bild von einer scheinbar äußerlich harmonischen Kindheit, doch die häusliche Gewalt überschattet diese. Warum der angeblich so gute Lehrer, der der Vater sein soll, nur an Weihnachten freundlich ist, dieser Frage geht der Autor nicht nach. Er analysiert nichts, sucht nach keinen Erklärungen oder Entschuldigungen für die Verhaltensmuster des Vaters. Er überlässt dem Leser das Nachdenken und Urteilen. Die Aggressionen des auch sadistischen Vaters hemmen jeglichen Widerstandsgeist der Kinder, erst zum Ende verweigert Ingve stur den Umzug mit der Familie. Karl Ove Knausgård beschließt für sich, als seine Kinder auf der Welt sind, dass sie nie Angst vor ihm haben sollen.

Wie auch im Band „Spielen“ versinkt der Leser, wenn er sich auf die Lektüre einlässt, im nicht gerade spektakulären, aber authentischen Leben dieses norwegischen Autors mit Echtheitsgefühl, der keine ironische Distanz, Leichtigkeit oder Abgeklärtheit sucht, sondern gekonnt literarisch wiedergibt, wie es war. Als Kind konnte er nichts infrage stellen und so bleibt auch der Grundton des Erzählten. Auch wenn es eine persönliche Fahrt in die Vergangenheit ist, so ist entsteht doch auch ein gesellschaftliches Abbild einer bestimmten Generation, eines bestimmten Zeitempfindens, das so nie wieder zu finden sein wird.