Beate Rothmaier: Atmen, bis die Flut kommt, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2013, 400 Seiten, €19,99, 978-3-421-04495-2 \r\n

„Mehr als der absurde Gedanke, das Kind könnte verschwinden, bedrängte mich nach und nach die Vorstellung, ich selbst ginge da draußen in der Nacht verloren und fände den Weg nicht mehr zurück.“

Anziehend finden sich die beiden, begehrenswert unkonventionell und vor allem unabhängig. Der 32-jährige Konrad arbeitet in Zürich als Comiczeichner an eigenen Projekten, Paule ist Informatikerin, nicht besonders schön, aber verrückt und sprunghaft. \r\nAus Konrads Sicht erzählt, beginnt eine ganz normale Liebesgeschichte und dann ist Paule schwanger.

„ Je mehr ich redete, umso verschlossener und abwehrender wurde Paule, umso begeisterter malte ich uns das Leben mit dem Kind aus.“

Aber aus dem „uns“ wird nichts, denn Paule vergisst ihr Kind oder lässt es bei für Konrad fremden Leuten, von denen er Lioba, kurz Lio genannt, wieder abholt. Und dann eines Tages ist Paule weg. Sie schreibt ihrem Kind an jedem Geburtstag, auch wenn sie den genauen Tag nicht trifft, eine Postkarte. Nach 17 Jahren kann Konrad erkennen, wo Paule lebt und macht sich mit Lio auf den Weg zur Mutter.

Innerhalb dieser Rahmenhandlung erzählt Konrad vom Leben mit Lio. Es stellt sich heraus, dass das Kind behindert ist. Ein Gendefekt. Eine Gedeihstörung wird diagnostiziert und viele weitere gesundheitliche Probleme. Konrad ist verzweifelt. Er ahnt, dass es schwierig wird, mit seiner Freiberuflichkeit und dem Kind, das viel Aufmerksamkeit benötigt. Von familiärer Seite kann Konrad keine Hilfe erwarten. Paule hat ihrer unterkühlten Mutter nichts von der Geburt des Kindes gesagt. Konrads eigene Eltern sind bei einem Unfall ums Leben gekommen, aufgezogen hat ihn die Großmutter, die jetzt langsam dement wird.

Beate Rothmaier weiß, wovon sie schreibt. Sie sagte in einem Interview: „Es gibt den autobiographischen Bezug insofern, als eins meiner Kinder mit einer geistigen Behinderung geboren wurde, und ich mich selbst unvermittelt genau mit diesen Fragen konfrontiert sah.“ Wie die Autorin wird Konrad in diese Lebenssituation „geworfen“. Er muss mit der Trennung von Paule klarkommen, aber noch viel existentieller ist Lios Anwesenheit, mit der er leben muss und anfänglich auch will.

Hilfe von der Nachbarin, eine Liebesaffäre und eine engere Bindung ziehen sich durch Konrads Jahre, in denen er mit seinem Freund Max, der ihm arbeitsmäßig helfen will, nicht reden kann, in denen er auch zeitweilig Lio in ein Heim geben wird und sie wieder zurückholt. Konrad wächst in die Vaterrolle hinein, in die enge Zweisamkeit mit seinem Kind.

„Mein Gehör verfeinerte sich, mein Schlaf wurde leichter, meine Unbekümmertheit löste sich Viertelstunde für Viertelstunde in unserem Alltag auf wie die grünen Tropfen Medizin, die im Wassertank der Inhalierpumpe schleierten, bevor sie unter dem pumpenden Brummen des Motors zur Dampfsäule wurden, die durch den gerippten Schlauch und die winzige Plastikmaske in Lios Körper verschwand.“

In der Konfrontation mit der Außenwelt erlebt Konrad Lios Anderssein. Die Untersuchung beim Humangenetiker, immer wieder hinausgeschoben, untermauert das etwas nicht stimmt. Nur Josefine nimmt die beiden so wie sie sind.

Wenn man „Atmen, bis die Flut kommt“ liest, dann schaut man in ein anderes Leben und setzt sich damit auseinander, fragt sich, ob Paule geahnt hat, was auf sie und Konrad zukommen wird.

Beate Rothmaier macht es dem Leser nicht leicht und doch fasziniert ihre Sprache, ihre Beobachtungsgabe und die Thematik, auf die man sich einlassen sollte.