John Boyne: Der freundliche Mr Crippen, Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence, Arche Verlag, Hamburg 2013, 528 Seiten, €22,95, 978-3-7160-2700-4
„Er war entschlossen, da bestand keine Frage. Er griff in seine Taschen. Links war die Flasche und ein Taschentuch, rechts drei feste, scharfe Messer, um die Tat zu vollenden.“
Es ist ein historischer Kriminalfall, oft verfilmt, der sich vor mehr als 100 Jahren ereignete. Cora Crippen wurde am Hilldrop Crescent 39 im Londoner Stadtteil Holloway ermordet. Ihre körperlichen Überreste fein säuberlich in Paketen verpackt wurden unter den Bodenplatten im Keller gefunden. Der Kopf jedoch blieb verschwunden. Doch wer war der Täter?
Der irische Autor John Boyne rollt die Ereignisse von Neuem auf und erzählt in seinem Roman aus seiner Sicht von den Menschen, die in diesen Fall einst involviert waren. John Robinson und sein Sohn Edmund gehen 1910 an Bord der Montrose. Schnell wird klar, Edmund ist eine junge Frau. Per Zufall entdeckt der Kapitän des Schiffes, dass den Weg von Antwerpen ins kanadische Quebec angetreten hat, die Verkleidung.
Rückblickend und auch zeitversetzt wird der Leser nun über die Biographie der Hauptfigur Hawley Crippen ins Bild gesetzt. Mit einer religiösen, den Sohn innig liebenden Mutter gesegnet, bleibt Hawley in heimatlichen Michigan wenig Raum zum Atmen. Die Mutter, die in ihrem religiösen Wahn mit Jesus verheiratet ist, widmet all ihre Kraft dem Kind. Als Hawley jedoch der bigotten Mutter seinen innigsten Wunsch, Arzt zu werden, offenbart, verweigert diese ihm jegliche Unterstützung. Aus eigener Kraft, Crippen arbeitet hart in einem Schlachthof, schafft es der junge Mann sich zwei medizinische Abschlüsse allerdings über Fernstudien zu sichern. Letztendlich ist er nur ein ausgebildeter Arzthelfer, gibt sich aber zeitweilig als Doktor aus.
Unglückliche Umstände, die Eltern hätten sich nie ein Medizinstudium leisten können, Lügen, Täuschungen und das Vorgaukeln falscher Selbstbilder und Einschätzungen durchziehen als Motiv den gesamten Roman. Auch Crippens zweite Frau Cora erzählt jedem, der es wissen will, wie begabt sie als Sängerin ist, obwohl ihr dürftiges Talent eher mittelmäßig ist. Aus der Unzufriedenheit über Dichtung und Wahrheit erwächst in der Ehe der Crippens ein Gewaltpotential, das Hawley scheinbar irgendwann handeln lässt.
Äußerlich hält sich John Boyne an die historischen Fakten. Er zeigt psychologisch nachvollziehbar, wie es möglicherweise zu der Tat kommen konnte.
Crippen geht mit seiner zweiten Frau, einer Varieté-Tänzerin, nach London. Schnell wird Crippen klar, dass Cora mit ihrer tyrannischen und hysterischen Art sein Leben zur Hölle machen wird. Sie, die wie ihre Bekannte, Louise Smythson, nur auf der Suche nach einem reichen Mann war, um gesellschaftlich aufzusteigen, hatte sich in Crippen gewaltig geirrt. Als vermeintlicher Arzt kann er ihr nie den gesellschaftlichen Rang bieten, der ihr ihrer Meinung nach zusteht. Er ist auch finanziell nicht in der Lage, sie ausreichend auszustatten. Zwar arbeitet er von früh bis spät, kann sich aber nicht sanieren. Die launische Cora beginnt ihren Mann zu hintergehen, zu betrügen und letztendlich schlägt sie ihn, wenn ihr etwas nicht passt.
Als Crippen dann eine junge, sanfte Frau, Ethel LeNeve, kennenlernt, spürt er zum ersten Mal was es bedeuten könnte, jemanden wirklich zu lieben.
Ethel erkennt, in welchem privaten Dilemma Crippen steckt. Angeblich, so wird nach Coras Verschwinden behauptet, sei sie während ihrer Reise nach Kalifornien verstorben. Chief Inspector Walter Dew von Scotland Yard aufgescheucht durch die Aussage der sogenannten Freundin von Cora, Mrs Smythson und ihren weitreichenden Kontakten, stattet Crippen einen Besuch ab und ist fasziniert von dem sanften, wie freundlichen Mann, dem er nie einen Mord zutrauen würde.
Die Jagd nach den beiden Flüchtigen nimmt nur einen kurzen Teil des Romans ein. Dew stellt Mr Robinson auf der Montrose, bevor er kanadischen Boden betreten kann und nach John Boynes Sicht auf diesen Kriminalfall hat sich der Kriminalbeamte in Crippen auch nicht getäuscht.
Bestechend ist der trockene Humor mit dem John Boyne all seine Figuren, die historisch belegten, aber auch die fiktiven, präzise durch deren Wortwahl entlarvt. Da sind die ungebildeten und anmaßenden Mitmenschen mit Vermögen und Einfluss und die die ohne Mitgefühl, Empathie oder Distanz alles dafür tun, um in den Kreis der Wohlhabenden aufgenommen zu werden.
Wie bereits in seinem Roman „Der Schiffsjunge“ ( John Boyne erzählt von den Ereignissen rund um die Bounty und bietet dem Leser einen ganz neuen Weg, die Geschehnisse zu betrachten) zieht der Autor, den Leser vom ersten Moment in die Geschichte hinein. John Boyne kann spannend, atmosphärisch dicht und vor allem lebensnah schreiben. Es scheint als stünde der Leser immer genau in der beschriebenen Szene. Schnell schlägt man sich beim Lesen auf die Seite derjenigen, die doch eigentlich zu verurteilen wären. Unterhaltsam liest sich diese Neuinterpretation der historischen Geschehnisse, die bis heute nicht wirklich entschlüsselt sind.
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