WILDE KERLE

Dave Eggers: Bei den wilden Kerlen, Nach Maurice Sendaks Buch und Spike Jonzes Film, Deutsch von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann, Kiepenheuer & Witsch 2009, 271 Seiten, �18,95

Spielfilm: Wo die wilden Kerle wohnen, Originaltitel: Where the wild things are, Fantasy-Familienfilm, USA, 2009, 101 Minuten, Regie: Spike Jonzes Verleih: Warner

Maurice Sendak: Wo die wilden Kerle wohnen, Aus dem Amerikanischen von Claudia Schmölders, Diognes Verlag, Zürich, 1963 � 2009, 40 Seiten, �16,90

�König? Du bist blo� ein Junge, der so tut, als wäre er ein Wolf, der so tut, als wäre er ein König.� Max funkelte Alexander an.

Wild toben bereits auf der ersten Bilderbuchseite Maurice Sendaks berühmter Held Max und zwei knuffig-knuddlige, aber scharfzähnige Ungeheuer auf dem wei�en Papier. Der achtjährige Junge kann seine Wut, seine �ngste, seine Frustration und seinen Ha� nicht zügeln und schreit in seinem Wolfskostüm, dass die Gefühle des Jungen noch verstärkt, der Mutter entgegen: � Ich fress dich auf!� Max ist im magischen Alter, alles ist noch vorstellbar und so entschwindet er auf eine Insel voller Ungeheuer, wo er der Herrscher sein wird. Maurice Sendak spiegelt die innere Auseinandersetzung des gestraften Jungen, der kein Abendessen erhält, in einer Fantasiegeschichte, die seine innersten Gefühle nach au�en kehren.

Im Film und auch im nach dem Drehbuch entstandenen Kinderbuch setzt Max seine im Innern, tobenden Gefühle in Taten um, er bei�t die Mutter ( mit Geduld gespielt von Catherine Keener), da er keine Lust aufs Essen hat. Aber nicht nur das, Max fühlt sich auch einsam. Dave Eggers nutzt zwar die originale Grundhandlung Sendaks und die Idee, dass das Kind in die imaginäre Welt der Fantasie flüchtet, erfindet aber Figuren und Erzählstränge hinzu. Durch Beobachtungen der Nachbarskinder in Brooklyn kommt Sendak auf die Idee für sein berühmtes Bilderbuch. Er wei�, dass Kinder bereits in frühen Jahren mit störenden Emotionen leben und gegen ihren Frustrationen ankämpfen. In seiner Dankesrede zur Verleihung der Caldecott-Medaille 1964 sagte Sendak: � Ihre Phantasie ist es, die Kinder zur Katharsis befähigt. Sie ist das beste Mittel, das sie haben, um die wilden Kerle zu zähmen.�

In Eggers Geschichte lebt Max mit seiner geschiedenen Mutter, der Vater meldet sich kaum, und seiner 14-jährigen Schwester Claire zusammen. Sie beachtet ihren Bruder kaum noch und das kränkt Max. Er wünscht sich Aufmerksamkeit, doch die Mutter kümmert sich um ihre Arbeit oder ihren Freund Gary, den Max nicht ausstehen kann. Die Mutter appelliert an die Vernunft des Jungen, sie will nicht mehr nach Hause kommen und ein Chaos vorfinden. Doch Max ist nicht in der Lage �das Haus zusammenzuhalten�. Irgendwann explodiert der Junge und überschüttet nach einer tiefen Kränkung Claires Zimmer mit acht Eimern Wasser. Claire und ihre Freunde haben bei einer harmlos beginnenden Schneeballschlacht, natürlich von Max angezettelt, sein Iglu zerstört und ihm weggetan. Auch Max hat Claires Freundin Schnee ins Gesicht geballert. Max kennt keine Grenzen, er geht bis zum �u�ersten und dann tut es ihm leid. Nichts kann seine inneren Teufeleien zügeln. Nach dem Eklat mit der Mutter flieht Max aus dem Haus, schnappt sich ein Boot und landet an den Ufern der Insel der wilden Kerle. Sagenhaft schön sind die Einstellungen im wei�en Wüstensand oder am Meer, wenn Max und Carol so vor sich hinspazieren. Die Puppen, die getreu nach den Bilderbuchfiguren von Sendak gefertigt sind, vereinen in sich das Ungeheuerliche, den Freiheitsdrang, die Unberechenbarkeit, das Ungestüme, aber auch Sanftmut, Trotz oder Unverständnis. Bei Dave Eggers haben sie Namen und Geschlechter, sie hei�en Carol, Alexander oder Judith und sind jeder für sich eine unverwechselbarer Charakter. Alexander ist ein bisschen destruktiv und doch empfindsam, Katherine versteht Max und seine �ngste, Carol ist das Alter Ego von Max und Ira und Judith ein seltsames Paar. Aber der Schauer kann dem Zuschauer beim Anblick der Monster schon den Rücken herunterrieseln, wenn sie alle auf Max einstürmen, ihn fressen wollen oder Steine durch die Gegend werfen ohne Rücksicht auf Verluste. Alle kämpfen gegen die Leere an, wollen Spa� und das Gefühl, anstellen zu können, was sie wollen und sie wünschen sich einen König, der alles zum Guten hin richten soll. Max übernimmt in seinem Ungestüm diese Rolle und scheitert. Er wird das Gefühl nicht los, dass er der Zerstörer in seiner und der Welt der Monster bleibt. Hat er zu Beginn noch prima Vorschläge, die allerdings eher ihn körperlich in Gefahr bringen, so versiegen die Ideen. Sehr emotional gerät Max in einen tiefen Konflikt mit Carol, der beinahe in einer Katastrophe enden würde. Doch ausgerechnet der zögerliche Alexander erweist sich als Retter, der Max den richtigen Weg weisen kann. Hat jeder junge Leser oder Zuschauer Freude an den ruppigen, ma�losen Spielen der Inselmonster, die sich knuffen, treten und voller Freude durch die Gegend fliegen, so schwingt doch unmerklich eine seltsame Melancholie über der erzählten Fantasygeschichte. Nie ist die ausgelassene Stimmung wirklich fröhlich, denn immer raunt, auch in den Filmbildern, ein Geheimnis im Hintergrund. Max findet zu sich und zu seinen Gefühlen. Die Mutter erwartet ihn (im Film) und schenkt ihm endlich die Aufmerksamkeit, die er sich so sehr ersehnt hat. Wer den für alle Altersgruppen unterhaltsamen Film von Spike Jonzes gesehen hat, kann mit viel Freude nochmal das Kinderbuch von Dave Eggers lesen und vor seinem inneren Augen, mit Abwandlungen, die Bilder und Szenen nacherleben. Dave Eggers kann in seinem nach dem Drehbuch geschriebenen Buch vieles aufgreifen, was in die Handlung des Films nicht gepasst hätte, aber gesagt werden sollte. So nimmt der amerikanische Autor in vielen Erzählsituationen die Lust der Kinder an der Bewegungsfreiheit auf, die ihnen das moderne Umfeld nicht mehr gewährt. Max soll nicht mal zu seinem Freund mit dem Fahrrad fahren, obwohl der Weg nicht weit ist. Die auf Max verrückt wirkende Mutter seines Freundes begleitet Max rennend neben dem Fahrrad nach Hause, damit kein Kinderschänder auf ihn aufmerksam wird. Die Hysterie setzt sich an der Schule fort und im Sportunterricht. Kinder weinen, wenn sie im Mannschaftssport nicht mithalten können und einstecken müssen. Eine traurige, der Wirklichkeit sicher abgeschaute, Realität schildert Eggers und zieht so die Handlung in die Gegenwart. Freiräume, die Kinder für ihre Entwicklung benötigen sind versperrt, Eltern sind eingebunden in ihre alltäglichen Verpflichtungen und Kinder, die noch nie so im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen wie heute, werden überbehütet oder verwahrlosen durch überreichen Konsum und Lieblosigkeit.

�Wo die wilden Kerle wohnen� ist nach wie vor ein Klassiker und das nicht nur für Kinder, sondern auch für Eltern.