Jeder professionelle Rezensent erhält im Frühjahr und Herbst ganze Berge von Neuerscheinungen. Nur ein geringer Bruchteil der aktuellen Bücher wird in Zeitschriften oder Rundfunksendungen besprochen.
Im Laufe der Zeit hat sich gerade im Kinder- und Jugendbuchbereich der Anteil an rezensierten Titeln verkleinert und Kritik ist kaum gefragt.
In dieser Website soll eine Auswahl an aktuellen Büchern präsentiert werden, die der Rezensentin Karin Hahn positiv oder negativ aufgefallen sind.
Karin Hahn ist Mitglied in der Jury "Die Besten 7 � Bücher für junge Leser�. Das ist eine Bestenliste für Kinder � und Jugendliteratur, die monatlich im Auftrag vom Deutschlandfunk und Focus zusammengestellt wird.
Sie arbeitet als Journalistin für die Sender Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk, schreibt für die Leipziger Volkszeitung, die Fachzeitschrift BuchMarkt und rezensiert Kinder- und Jugendbücher, Hörbücher und Kinofilme. Als Produzentin und Regisseurin war sie an der Veröffentlichung der Hörspiele "Alice im Wunderland" und "Der Wind in den Weiden" beteiligt. Karin Hahn ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Berlin.
Tami Shem-Tov: Das Mädchen mit den drei Namen
Aus dem Niederländischen und Hebräischen von Mirjam Pressler, Fischer Schatzinsel, Berlin 2009, 320 Seiten, �14,95
Lieneke hat drei Namen: Jacqueline, Lieneke und Nili. Den Namen Nili erhielt das Mädchen als sie nach Israel übersiedelte, denn Lieneke ist kein hebräischer Name.
Lieneke ist die jüngste Tochter der Familie van der Hoeden, die in Utrecht lebt. Der Vater ist ein anerkannter Veterinärmediziner. Sie hat drei Geschwister: Hanni, Bert und Rachel. Ihre Mutter ist eine durchsetzungsfähige Frau, die gegen den Willen ihrer sephardischen Familie, den aschkenasischen Juden einfacher Herkunft heiratete. Die Familie ist nicht besonders religiös. Lieneke beobachtet nur, dass sie zu Weihnachten keinen geschmückten Baum aufstellen und die jüdischen Feiertage wahrnehmen. Die Eltern geben Lieneke den Namen Jacqueline und dieser Name setzt sich aus den Vornamen ihres Vaters und ihrer Mutter zusammen: Jacques und Lien. �Dein Name ist das Zeichen einer gro�en Liebe.� sagt die Mutter immer wieder, denn sie hat ihr letztes Kind, gegen den Rat der �rzte, bekommen. Aus Jacqueline wird Lieneke als die Familie beschlie�t unterzutauchen.
Die Erzählung setzt ein als die zehnjährige Lieneke bei der kinderlosen Famile Kohly wohnt. Der ernste Dr. Kohly ist der Landarzt des kleinen Ortes Den Ham, seine Frau ist Schweizerin und kümmert sich um das ihr anvertraute Kind. Lieneke ist offiziell die Nichte aus Amsterdam. Mit gefälschten Papieren, die Lienekes Vater mit seinem Zeichentalent anfertigte ( Die Mädchen tragen die Namen zweier Waisenkinder, deren Tod von der Leiterin des Waisenheims nicht gemeldet wurde.), hat sich die Familie eine neue Identität verschafft. Lieneke fühlt sich wohl bei den Kohlys, aber immer wieder wandern ihre Gedanken in die Vergangenheit zu ihrer Familie und der gemeinsamen Zeit vor der deutschen Besatzung 1940. Sie erinnert sich an ihre ältere, lebhafte Schwester Rachel, die am liebsten im Freien tobt. Gemeinsam streiken die beiden Mädchen für einen eigenen Hund. Sie wissen, dass sie die Mutter auf ihrer Seite haben, aber der Vater ist gegen ein Haustier. Er gibt auf und Toto gehört zur Familie, nachdem der Veterinär den Hund geimpft hat. Lieneke versucht sich zu erinnern, wann sie eigentlich jüdisch geworden sind. Sie erinnert sich an ihre Freundinnen Charlotte und Liesje. Mit Charlotte kann sie, nachdem Lieneke die Schule verlassen musste, und auch nur noch über den Balkon reden und auch das ist nicht erlaubt. Das Schild am Park �Zutritt für Hunde und Juden verboten� brennt sich tief in ihrer Erinnerung ein. Lieneke, eher still und in sich gekehrt, liebt das Lesen, Singen und Schreiben. Als der erste Brief vom Vater im Oktober 1943 Lieneke erreicht, ist sie überglücklich. Liebevoll schreibt der Vater auf die Vorderseite des Heftchens: Schwätzchen mit Lieneke. Die getuschten Buchstaben sind akkurat zu Papier gebracht. Mit kleinen lustigen Zeichnungen ergänzt der Vater, was er seiner jüngsten Tochter erzählen möchte. In seinen Bildern tauchen Schnecken auf, Hunde tollen über die Seiten und Jacob van der Hoeden zeichnet sich selbst, wie er ein krankes Küken verarztet. Pilze sind zu sehen, aber auch Herzchen und Blümchenranken, die auch Kinder malen, wenn sie kleine Briefe schreiben. In seinen Bildern und Plaudereien bezieht sich der Vater unsentimental auf Erinnerungen an die gemeinsam verbrachte Zeit und schaut hoffnungsvoll in die Zukunft. Es geht um Geburtstage, Wünsche zum Nikolaus oder einfach nur das Wetter. Der Vater will alles über die Schule wissen und fordert die Tochter auf, auch ihm etwas zu zeichnen.
Lieneke kennt die Briefe des Vaters auswendig. Jedesmal, wenn ein Brief sie erreicht, gibt sie ihn nach einer gewissen Zeit Dr. Kohly zurück. Sie wei�, dass diese Briefe eine Gefahr für die gesamte Familie sind. Sie wei� auch, dass sie sich richtig verhalten muss und keinen Fehler machen darf.
Als die Familie van der Hoeden immer mehr die Repressalien, der Vater verliert seine Arbeit, durch die deutschen Besatzer zu spüren bekommt, beschlie�t sie unterzutauchen. Die Eltern erzählen den Kindern nun, dass sie ein Kriegsspiel spielen. Alle ändern ihre Namen, sie trennen ihr �J� von der Kleidung und machen sich auf den Weg zu ihren Verstecken. Hanni verbirgt sich in einem Kloster, Bart kommt bei Bauern unter. Die Mutter ist zu krank, um zu fliehen. Sie stirbt vor Kriegsende. Zu Beginn der Flucht sind der Vater, Rachel und Lieneke noch zusammen.
Lieneke hat sich in Den Ham mit Klaas und Gerda angefreundet. Aber sie fühlt sich nicht wohl, denn eine Lüge steht zwischen ihnen. Das Mädchen ist oft krank, denn auch die Leute auf dem Land haben nicht viel zu essen. Lieneke geht gern in die kleine Schule. Sie darf zwei Klassen aufgrund ihrer guten Leistungen überspringen. Das teilt sie stolz dem Vater, den sie jetzt Onkel Jaap nennt, in ihrem Brief mit. Der Vater antwortet und freut sich mit ihr. Lieneke erinnert sich an die erste Station ihrer Flucht bei der Familie Domisse. Hier sind der Vater, Rachel und Lieneke noch zusammen. Eingesperrt in einem Zimmer unter dem Dach fühlte sich Rachel überhaupt nicht wohl. Der Vater von Frau Domisse, ein Anhänger der Nazis, hätte die drei beinahe gesehen. Jakob van der Hoeden beschlie�t, dass sie sich trennen müssen. Die beiden Mädchen kommen als Verwandte aus Rotterdam zur Familie Cooymans. Dr. Cooymans hatte van der Hoeden seine Hilfe angeboten. Die Frau des Doktors ist �sterreicherin und in dem kleinen Ort, in dem sie wohnen, nicht angesehen. Sie lässt ihre Töchter von einer strengen Gouvernante erziehen. Die beiden Mädchen gewöhnen sich schnell an die starren Regeln in der Familie und spüren doch die Eifersucht der beiden Cooymans-Mädchen auf den kleinen Bruder Peter, den die Mutter besonders liebt. Im Haus der Cooymans gibt es ein Versteck für die beiden Mädchen, im Falle deutsche Soldaten eintreffen. Als Lienekes helle Gesangsstimme dem Pastor auffällt und sie in der Kirche zu Weihnachten singen soll, beschlie�en die Cooymans, dass es zu gefährlich werden könnte. Lieneke und Rachel werden getrennt. Lieneke gelangt zur Familie Dr. Kohly. Am 24. Mai 1944 erhält sie vom Vater einen Geburtstagsbrief. Beschwingt schreibt er, dass er nicht kommen kann, da sein Anzug nicht in Form ist und den Hut die Motten gefressen haben. Sie wird 11 Jahre und es ist kein Ende abzusehen, wann sie ihre Familie endlich wiedersieht. So ein Vater ist ein ganz besonderer Mensch und Lieneke spürt, dass sie ihm auch durch ihr mutiges Aushalten trotz aller Sehnsucht eine gute Tochter sein möchte. Im Haus der Kohlys werden zwei Juden versteckt. Lieneke bringt ihnen manchmal das Essen und führt lange Gespräche mit David und Clara. Sie darf ihre Schwester Rachel, die jetzt Fransje hei�t, besuchen. Lieneke kehrt zu den Kohlys zurück und fühlt, wie wichtig sie für die beiden ist. Als die Niederlande befreit ist, findet die Familie van der Hoeden sich wieder. Dr. Kohly überreicht seinem Schützling Lieneke zum Abschied die angeblich vernichteten Briefe des Vaters. Ein Schatz, den Nili Goren, Jahre später dann dem Kindergedenkmusem Yad LaYeled übergeben hat. Sie war der Meinung, dass der Vater diese persönlichen Briefe nur allein für sie geschrieben hatte. Eine Veröffentlichkeit hätte er nicht gewollt. Aber viele Bekannte und Freunde, die die illustrierten Briefe kennen, drängten Nili Goren die Briefe der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Sie stellte die Hefte im Format 8 mal 12 Zentimeter zur Verfügung, unter der Bedingung, dass von ihnen Kopien gemacht werden, die die jungen Besucher in die Hand nehmen und lesen können.
Lienekes Erlebnisse reihen sich in die wahre Geschichten, die nach Erinnerungen lebender jüdischer Zeitzeugen, als Kinderbücher veröffentlicht wurden. Aktuell sind von Kathy Kacer �Ediths Versteck� ( Bloomsbury Kinder & Jugendverlag) oder von Eva Erben �Mich hat man vergessen� (Beltz & Gelberg Verlag) erschienen. Doch die Zeitzeugen sterben langsam aus. Eine andere Frage ist, wie erzählt man heute von den unbegreiflichen Schicksalen der jüdischen Menschen und erreicht damit auch das Verständnis und das Herz der jungen Leser. Zu viele Informationen oder ausführliche Hintergrundbetrachtungen könnten den Prozess des Erzählens stören. Die israelische Autorin Tami Shem-Tov hat sich darauf eingestellt und als Erzählperspektive die Sicht des Mädchens mit den drei Namen gewählt. Im Wechsel von Lienekes Erinnerungen, dem gegenwärtigen Leben bei der Familie Kohly und den abgedruckten Briefen des Vaters (auf den letzten Seiten sind Fotos der Familie van der Hoeden zu sehen) konzentriert sich Tami Shem-Tov auf ihre Hauptfigur. Sie ist dem Mädchen ganz nah und hält sich an die autobiographischen Details, die sie von Nili Goren ( Am Ende wird in einem Gespräch zwischen Autorin und Nili Goren davon berichtet, wie das Leben Lienekes nach der Befreiung weiterging.) erfahren durfte. Es bedarf auch nur weniger Szenen, um dem Leser klarzumachen, warum und wie das Mädchen aus ihrem gewohnten Alltag gerissen wurde. Sie wird von ihrer besten Freundin getrennt, sie ahnt, was mit Judith geschehen sein könnte, sie liest dieses diffamierende Schild am Park und fühlt einfach nur das unbegreiflich Grausame. Sensibel nimmt sie Veränderungen in ihrer Umgebung wahr, führt aber gleichzeitig bei Menschen, die ihr wohlgesonnen sind, das ganz normale Leben eines Mädchens, das gern singt und mit Freunden zusammen ist. So lernt sie in Den Ham Gerda kennen. Bei Gerda wohnt ein minderjähriger deutscher Soldat, der die Gesellschaft der beiden Mädchen sucht, um gegen sein Heimweh zu kämpfen. Er ist genauso wie Lieneke von seiner Familie getrennt und leidet. Lieneke wei�, wie es ihm geht und doch könnte er für sie zu einer tötlichen Gefahr werden. Durch die Gegenüberstellung von Lienekes Erinnerungen an eine friedliche Zeit und ihr Leben in fremden Familien, immer verbunden mit der Angst wieder fortzuziehen, kann der junge Leser Lienekes Empfindungen und �ngste gut verstehen. Der schmerzliche Einschnitt mit Beginn des Krieges, die Gefahr, mit der fremden Identität entdeckt zu werden, schwingt unterschwellig immer mit. Wichtig ist und wirkt in der Geschichte fast hintergründig, wie viele Menschen Anteil am �berleben der Familie van der Hoeden hatten. Die stille Post vom Vater zur Tochter und umgekehrt wurde mit Unterstützung des holländischen Widerstands weitergeleitet. Wie selbstverständlich werden die Mädchen und der Vater in fremden Familien trotz Gefährdung aufgenommen und behütet. David sagt einen Satz, der Lieneke lang beschäftigt: �Menschen sind die überraschensten Geschöpfe, die es gibt, sowohl im Guten wie im Schlechten, vor allem in Kriegszeiten.� Auch wenn für den wissenden Leser vieles zwischen den Zeilen steht, für Kinder ist die Geschichte um Lieneke und ihre illustrierten Hefte berührend und nachvollziehbar.
Die Briefe des Vaters fügen sich ganz eigenständig in die Handlung ein. Da Lienekes Antworten nicht mehr verfügbar sind, werden sie auch nur stellenweise fiktiv eingesetzt. Die hoffnungsvollen Briefe verschaffen dem Mädchen Lebenskraft und Zuversicht. Es sind Briefe, die mit ihren bunt ausgemalten Anfangsbuchstaben oder Blumenranken fast kindlich wirken. Einmal zeigt der Vater der Tochter ganz behutsam wie sie ein Bild besser malen könnte. Er fordert sie auf, in der Schule aufmerksam zu sein, äu�ert seine Wünsche, hofft auf einen dicken Kuss und will sie zu allem ermutigen.