Jeder professionelle Rezensent erhält im Frühjahr und Herbst ganze Berge von Neuerscheinungen. Nur ein geringer Bruchteil der aktuellen Bücher wird in Zeitschriften oder Rundfunksendungen besprochen.
Im Laufe der Zeit hat sich gerade im Kinder- und Jugendbuchbereich der Anteil an rezensierten Titeln verkleinert und Kritik ist kaum gefragt.
In dieser Website soll eine Auswahl an aktuellen Büchern präsentiert werden, die der Rezensentin Karin Hahn positiv oder negativ aufgefallen sind.
Karin Hahn ist Mitglied in der Jury "Die Besten 7 � Bücher für junge Leser�. Das ist eine Bestenliste für Kinder � und Jugendliteratur, die monatlich im Auftrag vom Deutschlandfunk und Focus zusammengestellt wird.
Sie arbeitet als Journalistin für die Sender Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk, schreibt für die Leipziger Volkszeitung, die Fachzeitschrift BuchMarkt und rezensiert Kinder- und Jugendbücher, Hörbücher und Kinofilme. Als Produzentin und Regisseurin war sie an der Veröffentlichung der Hörspiele "Alice im Wunderland" und "Der Wind in den Weiden" beteiligt. Karin Hahn ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Berlin.
Philip Roth Jedermann
Philip Roth: Jedermann, vollstaendige Lesung von Peter Fitz, der hoerverlag, Muenchen 2006, 4 CD, 295 Minuten.
Philip Roth: Jedermann, Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz, Carl Hanser Verlag, Muenchen 2006,
Philip Roth erzaehlt in Rueckblenden, Erinnerungsfetzen, schnoerkellos und direkt vom Leben des New Yorker Juden Jedermann, der mit 71 Jahren nach einem medizinischen Eingriff, von dem er weder Nancy, seine geliebte so besonnene Tochter, noch seinen aelteren Bruder in Kenntnis gesetzt hatte, da dieser als Routineoperation galt, nicht mehr aufwacht. Die Erzaehlung beginnt mit der Beerdigung auf dem schaebig anmutenden juedischen Friedhof in der Naehe des Flughafen von Newark. Seine zwei Soehne aus erster Ehe, seine Tochter aus zweiter Ehe, Phoebe, seine zweite Ehefrau, sein Bruder, eine Pflegerin, Kollegen und Bekannte sind anwesend.
Bevor Jedermann allein ins Krankenhaus gefahren war, besuchte er die Graeber seiner Eltern. Er unterhaelt sich mit dem freundlichen Totengraeber, laesst sich im Detail von seiner Arbeit erzaehlen und ahnt insgeheim, dass in allzu naher Zeit dieser Mann auch sein Grab schaufeln wird.
Doch bevor er voller Wehmut diesen letzten Akt hinter sich bringt, erzaehlt der Autor von den verschiedenen Lebensstationen des Jedermann, die er nicht an seiner erfolgreichen Arbeit als Art und Creative Director in einer angesehenen New Yorker Werbeagentur, sondern an seinen Krankenhausaufhalten ( Bauchfellentzuendung, Bypass-OPs und, und ) festmacht. Das koerperliche Leiden im Alter schaerft die Erinnerungen und die Reue, die der Protagonist empfindet, wenn er an Phoebe, seine zweite Frau denkt. Er hadert mit dem Schicksal, gibt das Malen auf, verbittert, denkt sogar an Selbstmord und schliesst sich immer mehr in sich ein. Vor seinem inneren Auge sieht er nochmal das kleine Diamantgeschaeft seines Vaters, hoert die Anklage seiner zweiten einst so geliebten Ehefrau, die er mit einem 26 Jahre juengeren daenischen Model betrogen hatte und danach auch noch auf unverzeihliche Weise schaendlich belogen hatte. Die Flucht vor dem Tod und der koerperliche Verfall werden ab einem bestimmten Punkt zu seinem Lebensinhalt. Doch Roth verliert sich nicht in medizinischen Details, sondern beschreibt ziemlich nuechtern das Sterben. � Man kann die Wirklichkeit nicht ummodeln. Man muss es nehme, wie es kommt. Halt dich tapfer und nimmt es, wie es kommt, anders geht es nicht.� so lautet Jedermanns stoizistische Lebensmaxime. Im Angesicht der Krankheiten hilft sie ihm wenig. Er rekapituliert all seine Lebensfehler und macht augenblicklich neue, indem er seinen sechs Jahre aelteren Bruder, der sich immer fuer ihn eingesetzt hat, aus Neid von sich stoesst, nur weil dieser mit einer gesunden Natur ausgestattet ist. Auch sein Vater ist 90 Jahre alt geworden. Der Tod allerdings laesst sich Zeit. Kein Jahr vergeht, in dem Jedermann nicht im Krankenhaus sich einer OP unterziehen muss. Philip Roth schildert das normale, beruflich erfolgreiche Leben eines Jedermann und beruehrt ungemein. Neben den Szenen aus dem Alltag finden sich so makellose Saetze wie: 'Aber es ist ja gerade das Alltaegliche daran, was am meisten schmerzt, die wiedereinmal erneuerte Erkenntnis der Unabweisslichkeit des Todes, die alles ueberwaeltigt.'
Am Ende der Geschichte muss man noch einmal die Anfangsszene hoeren oder lesen, denn auf einmal werden alle Figuren am Grab des Toten Jedermann lebendig.
Es ist ein wahrer Genuss, Peter Fitz zuzuhoeren. Mit seiner Stimme kann er dramatisch zuspitzen, einfach nur innehalten, Zwischentoene finden und vor allem auf wundersame Weise den Hoerer in das Leben des Jedermann hineinziehen und einfach nicht mehr loslassen.