Lumpenloretta

Christine Nöstlinger

Nilpferd im Residenz Verlag, St. Pölten 2010, 128 Seiten, �13.90

�Er hat schlie�lich bisher blo� die Leute in der Siedlung gekannt und seine Schulkollegen und seine Verwandtschaft, und da ist niemand drunter, der Probleme mit der Miete hat, auf Flohmärkten Altwaren verkauft, Babys in Pflege gibt, Zeugnisse in Italien bestellt und im Winter auf einem Campingplatz fast erfriert.�

Glatze, eigentlich Konrad, wohnt mit seinen Freunden Zecke, Locke und Zahn in einer wohlsituierten Einfamilienhaussiedlung mit kleinen Vorgärten, aufgereiht an schnurgeraden Stra�en mit Alleebäumen. Stur kann der Junge sein, der von seiner ernährungsbewussten, auf extreme Sauberkeit achtenden Mutter, die vor allen Krankheiten Angst hat, tyrannisiert wird. Sicher meint sie es gut, aber es nervt. Als der Vater ihm die Haare ratzekahl abscheren musste, weil er angeblich Läuse hatte, war das Ma� voll. Nun schneidet sich Konrad seine Haare aus Trotz regelmä�ig und nennt sich Glatze. Als dann eines Tages auf dem Nachbargrundstück diese abgefahrenen Leute in Cowboystiefeln und quietschbunten Klamotten mit ihrem uralten Autobus vorfahren, öffnet sich für Glatze eine neue Welt. Altwarenhändler sind die neuen Nachbarn und sie haben eine Tochter, Loretta, in die sich Glatze auf der Stelle verknallt. Mit ihrem lauthals brüllenden Ghettobluster bringen die Neuen erstmal alle Nachbarn gegen sich auf, nur Glatze ist fasziniert. Um mithalten zu können, zieht er seine dreckigsten Sachen an und kommt mit Loretta ins Gespräch. Sie träumt davon, zum Zirkus zu gehen und übt schon mal im kleinen Vorgarten. Eine sehr lange Zeit ist sie nicht in die Schule gegangen, das könnte Probleme geben. Für die Kinder ist Loretta in Ordnung, sie gehen baden und verbringen Zeit miteinander. Für die Erwachsenen jedoch sind die Neuen ein Schandfleck in ihrer feinen Siedlung, denn uralter Kram liegt überall herum und im Haus, aber das wei� nur Glatze und der Gro�vater von Locke, türmt sich der Dreck. Der Abfluss ist verstopft, der Kühlschrank funktioniert nicht, verschmutztes Geschirr türmt sich und der Abfall lagert in den Ecken. Als Lockes Gro�vater die Spüle repariert und bemerkt, dass Loretta über mehrere Tage ohne Essen von den Eltern allein gelassen wird, regt er sich nicht künstlich wie die Nachbarn auf, sondern handelt. Eine Frau vom Jugendamt holt Loretta ab. Glatze und Locke sind entsetzt.

Als Glatze wei�, wo Loretta nun leben muss, beschlie�t er von zu Hause abzuhauen und die Freundin zu retten.

Feinfühlig und in einer berührenden mit zahlreichen ( für uns zum Teil witzig klingenden) Austriazismen durchsetzten Sprache erzählt die mittlerweile 74-jährige Christine Nöstlinger von einer besonderen ersten Liebe. Aus Glatzes Perspektive betrachtet der Leser die Geschehnisse und ist fasziniert von den Gefühlen und Beobachtungen des Jungen. Christine Nöstlinger beschreibt einfach nur die Lebenssituation der unterschiedlichen Menschen und muss keine genauen Erklärungen abgeben. Der schweigsame Glatze zieht sich gern auf einen Granitbrocken, seinen Denkstein zurück, den er mit niemandem teilt, um zu grübeln. So ein Mädchen wie Loretta ist ihm noch nie begegnet und er will unbedingt Zeit mit ihr verbringen. Dabei ist doch Locke in ihn verliebt, aber er hat nur Augen für das naive Zirkusmädchen mit den dünnen Beinen. Und Loretta, sie hängt sich an jeden, der ihr nur ein bisschen Aufmerksamkeit schenkt, denn eins ist nicht zu übersehen, dieses Kind ist einsam. Die österreichische Autorin zeigt auf differenzierte Weise, ohne ihre Figuren zu Karikaturen verkommen zu lassen, wie Menschen miteinander umgehen und dabei ist sie weder harmoniesüchtig, noch radikal. Lockes Gro�vater greift nicht nur mit seiner Zange ein, er traut sich Tatsachen zu schaffen, denn er sieht den akuten Handlungsbedarf, auch wenn es unbequem ist. Mögen die verantwortungslosen Eltern von Loretta ihre Kinder, ein Baby ist bereits in Pflege, vernachlässigen, in kleinen Szenen schimmert doch durch, sie sind vielleicht unfähig, aber nicht bösartig.

Christine Nöstlinger erzählt in einem Ton, dem man sich nicht entziehen kann. Sie schafft keine Stereotypen, sie klagt nicht an und beschönigt nicht, sie lässt ihre Figuren handeln bis zur bitteren Einsicht.