Jeder professionelle Rezensent erhält im Frühjahr und Herbst ganze Berge von Neuerscheinungen. Nur ein geringer Bruchteil der aktuellen Bücher wird in Zeitschriften oder Rundfunksendungen besprochen.
Im Laufe der Zeit hat sich gerade im Kinder- und Jugendbuchbereich der Anteil an rezensierten Titeln verkleinert und Kritik ist kaum gefragt.
In dieser Website soll eine Auswahl an aktuellen Büchern präsentiert werden, die der Rezensentin Karin Hahn positiv oder negativ aufgefallen sind.
Karin Hahn ist Mitglied in der Jury "Die Besten 7 � Bücher für junge Leser�. Das ist eine Bestenliste für Kinder � und Jugendliteratur, die monatlich im Auftrag vom Deutschlandfunk und Focus zusammengestellt wird.
Sie arbeitet als Journalistin für die Sender Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk, schreibt für die Leipziger Volkszeitung, die Fachzeitschrift BuchMarkt und rezensiert Kinder- und Jugendbücher, Hörbücher und Kinofilme. Als Produzentin und Regisseurin war sie an der Veröffentlichung der Hörspiele "Alice im Wunderland" und "Der Wind in den Weiden" beteiligt. Karin Hahn ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Berlin.
Klaus Kordon: Im Spinnennetz � Die Geschichte von David und Anna
Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2010, 560 Seiten, �19,95
�Nicht nur die Männer und Frauen in Plötzensee, sie alle � alle im ganzen Land! - sind wie in einem riesigen Spinnennetz gefangen, werden belauert, bespitzelt und verfolgt.�
Klaus Kordon beendet mit dem neuen Roman �Im Spinnennetz� seine dreiteilige Jacobi-Saga, eine Familiengeschichte ( 1848 � Die Geschichte von Jette und Frieder, Fünf Finger hat die Hand ) über drei Generationen hinweg. Ende des 19. Jahrhunderts, das Sozialistengesetz ist noch in Kraft und Frieder Jacobi wird zu vier Jahren Haft wegen Majetstätsbeleidigung und letztendlich seiner Zugehörigkeit zu den Sozis verurteilt. David Rackebrandt, sein Enkel, und Davids Mutter Rieke, eine künstlerisch nicht in allen Kreisen anerkannte Malerin, besuchen Frieder im Gefängnis Plötzensee. Atmosphärisch dicht beschreibt Klaus Kordon jeden Weg im alten Berlin, jede Stra�e, jeden Platz, ob es nun das Jüdische Scheunenviertel oder eine Dachbodenunterkunft ( Rattenhausen) ist oder eine gut bürgerliche Wohnung. Fast nebenbei flie�en geschichtliche Fakten und Zusammenhänge ein, die ein Gefühl für die Zeit und die Lebensumstände der Menschen vermitteln. Davids Gro�vater hat einen kleinen Handwerksbetrieb, er ist Zimmermann. Durch die Unterstützung des Onkels Fritz, der durch seine Güte eine Erbschaft gemacht hat, kann die Familie halbwegs finanziell unbesorgt leben. Onkel Fritz zahlt die Ausbildung der Kinder, auch Davids Schulgeld für's Gymnasium und er sorgte auch dafür, dass Davids Mutter, Rieke, ihren künstlerischen Neigungen nachgehen kann. Sie zeichnet für die Zeitungen Berliner Volksblatt und Berliner Volks-Tribüne als Rinnsteinkünstlerin, die Menschen, die unter Kaisers Staat im Elend leben. David, seine Sicht und seine Familie stehen im Mittelpunkt dieses Romans. Als Gymnasiast und Untersekundaner hat er nicht viel zu lachen, denn die Lehrer ( mit einer Ausnahme ) kennen seine familiären Hintergrund und verachten die sozialdemokratischen Ansichten. Für sie sind die streitbaren. kritikwilligen Menschen, die für mehr Gerechtigkeit und Freiheit einstehen und nicht an konservativen Werten und Kaisertreue festhalten, nur vaterlandslose Gesellen. Immer wieder aufs Neue gedemütigt, ist Daniel kurz davor die Schule zu verlassen, um Zimmerer wie der Vater und Gro�vater zu werden. Als er das dürre, aber mit ihrer Berliner Schnauze nicht auf den Kopf gefallene Mädchen Anna Liebetanz kennenlernt, begreift er erst, in welcher Armut Menschen dahinvegetieren können. Annas Vater, ehemals ein Uhrmacher, hat sich dem Alkohol und Selbstmitleid ergeben, die fünf Geschwister fertigen Tierfiguren aus Stofffetzen an und die Mutter schuftet als Wäscherin. Die spröde Anna vertraut dem �Jymnasiasten� erst nicht, doch dann entwickelt sich eine tiefe Zuneigung zwischen den beiden, die immer wieder durch Meinungsverschiedenheiten und Unverständnis für die Lebenssituation des anderen auf die Probe gestellt wird. Als David mit Anna und seinem Freund Utz von Sinitzki den Onkel auf seinem Gut besuchen, klaffen die Widersprüche zwischen den einzelnen Personen und ihren Klassen drastisch auseinander. Schwierig wird es für David als er von Onkel Köppe, einem streitbaren Journalisten, zum Plakate kleben aufgefordert wird. Alle politischen Gefangenen sollen endlich freigelassen werden und das Sozialistengesetz aufgehoben. Nicht viel und David wäre aufgeflogen und doch wird die Polizei den 16-jährigen Jungen inhaftieren.
Mit einer Fülle an originellen Berliner Sprüchen ist dieser Roman gespickt, denn Klaus Kordon charakterisiert seine Protagonisten aus der Gesprächsführung heraus. So berlinert Anna, da sie nie etwas anderes gehört hat, David spricht hochdeutsch und verfällt manchmal in den Dialekt, um Anna nah zu sein. Der Berliner Autor mutet dem interessierten Leser lange politische Dispute zwischen den Brüder Onkel August und Onkel Köppe zu und führt ihn seitenweise durch Berlin, seine Prachtstra�en und Hinterhöfe. Ab und zu wiederholen sich Informationen zu den einzelnen Personen, die eigentlich nicht nötig gewesen wären.
Viele Konflikte werden angerissen, die Rolle der Frau in der damaligen Gesellschaft, aber auch die unterschiedlichen Auffassungen über eine gerechte Gesellschaft und Demokratie gerade unter denen, die zur arbeitenden Schicht gehören. Wie wichtig gerade der Rückhalt der Familie in äu�erst schwierigen Zeiten ist, erlebt David an seiner eigenen Geschichte. Lesenswert ist dieser Roman für alle, die sich gern in eine historische Epoche zurückversetzen lassen, etwas über den Beginn der Demokratiebewegung in Deutschland erfahren möchten und mit dem Wissen auch einen Blick auf die heutige Zeit werfen. Klaus Kordon erzählt lebendig von Menschen aus Fleisch und Blut, von den aufrechten und gütigen mit Herzensbildung, die sich nicht verbiegen lassen, aber auch von denen, die vom Schicksal gebrochen wurden, sich nicht zu helfen wissen. Dabei ist die Palette der Figuren nicht überladen, aber doch anschaulich. Er lässt den Kleinbürger, das Lumpenproletariat und den devoten Staatsdiener zu Wort kommen, so wie den jüdischen Schuster aus den Scheunenviertel, den Handwerker, den verunsicherten Kleinbürger und den Arbeiter.
Das kann der Berliner Autor Klaus Kordon ohne Frage am besten, geschichtliche Ereignisse ohne erhobenen Zeigefinger lebendig werden lassen und mit menschlichen Schicksalen verbinden. Das wurde ihm schon oft bestätigt, zu Recht.