Jeder professionelle Rezensent erhält im Frühjahr und Herbst ganze Berge von Neuerscheinungen. Nur ein geringer Bruchteil der aktuellen Bücher wird in Zeitschriften oder Rundfunksendungen besprochen.
Im Laufe der Zeit hat sich gerade im Kinder- und Jugendbuchbereich der Anteil an rezensierten Titeln verkleinert und Kritik ist kaum gefragt.
In dieser Website soll eine Auswahl an aktuellen Büchern präsentiert werden, die der Rezensentin Karin Hahn positiv oder negativ aufgefallen sind.
Karin Hahn ist Mitglied in der Jury "Die Besten 7 � Bücher für junge Leser�. Das ist eine Bestenliste für Kinder � und Jugendliteratur, die monatlich im Auftrag vom Deutschlandfunk und Focus zusammengestellt wird.
Sie arbeitet als Journalistin für die Sender Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk, schreibt für die Leipziger Volkszeitung, die Fachzeitschrift BuchMarkt und rezensiert Kinder- und Jugendbücher, Hörbücher und Kinofilme. Als Produzentin und Regisseurin war sie an der Veröffentlichung der Hörspiele "Alice im Wunderland" und "Der Wind in den Weiden" beteiligt. Karin Hahn ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Berlin.
Klaus Kordon, Krokodil im Nacken, Beltz & Gelberg
( fuer Jugendliche und Erwachsene)
Die Geschichte von Manfred Lenz geht nahe und bewegt. Der Leser weiss, er hat zwar einen Roman in Haenden und doch sind es die authentischen Lebenserinnerungen des Schriftstellers Klaus Kordon selbst. Schafft Guenter Kunert in seinen Kindheitserinnerungen �Erwachsenenspiele�, die sich ebenfalls mit dem deutsch-deutschen Thema befassen, Abstand durch Ironie und Sarkasmus, so nutzt Kordon eine literarische Figur, um nicht � Ich � schreiben zu muessen. Manfred Lenz ist sein Alter Ego.
1972 beschliessen Manfred Lenz und seine Frau Hannah mit den zwei Kindern Silke und Michael, die DDR zu verlassen; Berlin, den Ort, wo Lenz gross geworden ist, Freunde zuruecklaesst, sein Zuhause. Doch wie gelangt jemand zu dieser endgueltigen Entscheidung, die alles veraendern wird? Fuer Manfred Lenz ist ein unbeschwertes Dasein im Land der sozialistischen Dauerphrasen unertraeglich geworden. Er will nicht mehr luegen, nicht mehr sich selbst in allem was er denkt und sagt kontrollieren. Das Krokodil im Nacken, das schlechte Gewissen, gegen die innere Ueberzeugung zu leben, laesst ihn nicht mehr los. Er, der es vom Arbeiter zum Aussenhandelskaufmann gebracht hat, und nun sogar ohne Parteibuch ins westliche Ausland reisen durfte, hat mit seinen 30 Jahren scheinbar alles erreicht. Als er jedoch zum Sprachrohr der SED anlaesslich des Prager Aufstandes 1968 gemacht wird, endet fuer Lenz das Arrangieren in der � besseren sozialistischen� deutschen Gesellschaft. Eine legale Ausreise in den Westen per Antrag war zu diesem Zeitpunkt nicht moeglich und so blieb nur der illegale Weg voller Risiken. 200 Kilometer vor der tuerkischen Grenze wird die Familie Lenz in ihrem Bulgarienurlaub verhaftet. Der Grund: �Republikflucht�.
In einer engen Zelle ohne Tageslicht, in Einzelhaft im Staatssicherheitsgefaengnis Hohenschoenhausen, � Verwahrraum 102, Pritsche 2�, ist sich Manfred Lenz mit seinen bohrenden Gedanken selbst ueberlassen. Seine Reise in die Vergangenheit beginnt.
Klaus Kordon beschreibt in seinem klaren Stil spannend, wirklichkeitsnah und sprachgenau die Zeitspanne von den 50er bis in die 70er Jahre. Wie in einem Spielfilm pendelt die Handlung zwischen Gefaengnisalltag und den Erinnerungsspruengen in die wechselvollen Lebensabschnitte des Protagonisten. Und Klaus Kordon hat ein fast fotografisches, detailgenaues Gedaechtnis fuer Orte, Menschen, Gerueche und Erlebnisse. Die Kneipe der Mutter im Prenzlauer Berg oeffnet ihre Tueren, mit Gaesten, die je nach System ihre Fahne in den Wind haengen, die Erinnerungen an die Drillmethoden im Kinderheim werden wach, in das Lenz als Jugendlicher nach dem Tod der Mutter wechseln musste, Beschreibungen menschlicher Schicksale schmerzen, ob nun in der Volksarmee der DDR oder in seinem Freundeskreis. Kurz schimmert der Glamour Westberlins auf und die wiederkehrenden Zweifel, soll man bleiben oder gehen. Den Alltag, die Arbeitsatmosphaere und das schizophrene Lebensgefuehl in der DDR gibt Klaus Kordon hautnah als waere es gestern gewesen wieder. Bilder von den verlogenen Maidemonstrationen laufen vor dem inneren Auge ab und der Leser hoert die oberflaechlichen, gebetsmuehlenartigen Parteibekenntnisse.
Als Manfred Lenz ohne Rechtsbeistand, vorverurteilt in Haft sitzt und mit den unmenschlichen Methoden in den Gefaengnissen der DDR konfrontiert wird, kommen keine Bedenken mehr auf, weshalb er das System der DDR verlassen musste. Nur ein Name gibt ihm Hoffnung, der des Rechtsanwaltes Dr.Wolfgang Vogel.
Klaus Kordon wollte nicht im Zorn, in Wut zurueckschauen. Deswegen sicher auch das lange Warten, gut 30 Jahre, bevor er sich an seine eigene Geschichte herangewagt hat. Dieser voluminoese Roman, immerhin 800 Seiten, erschienen in einem Kinder- und Jugendbuchverlag, der laut Aussagen Kordons in der Urfassung noch viel umfangreicher war, fesselt jeden Leser bis zum Schluss.
Die Geschichte des Manfred Lenz ist ein unverzichtbarer Rueckblick in die deutsch-deutsche Vergangenheit, aber auch eine Innenansicht der DDR, einem Land, das nicht mehr existiert und doch nicht vergessen werden darf.
Ein zeitgeschichtlich genauer Roman fuer jede Generation.