Jeder professionelle Rezensent erhält im Frühjahr und Herbst ganze Berge von Neuerscheinungen. Nur ein geringer Bruchteil der aktuellen Bücher wird in Zeitschriften oder Rundfunksendungen besprochen.
Im Laufe der Zeit hat sich gerade im Kinder- und Jugendbuchbereich der Anteil an rezensierten Titeln verkleinert und Kritik ist kaum gefragt.
In dieser Website soll eine Auswahl an aktuellen Büchern präsentiert werden, die der Rezensentin Karin Hahn positiv oder negativ aufgefallen sind.
Karin Hahn ist Mitglied in der Jury "Die Besten 7 � Bücher für junge Leser�. Das ist eine Bestenliste für Kinder � und Jugendliteratur, die monatlich im Auftrag vom Deutschlandfunk und Focus zusammengestellt wird.
Sie arbeitet als Journalistin für die Sender Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk, schreibt für die Leipziger Volkszeitung, die Fachzeitschrift BuchMarkt und rezensiert Kinder- und Jugendbücher, Hörbücher und Kinofilme. Als Produzentin und Regisseurin war sie an der Veröffentlichung der Hörspiele "Alice im Wunderland" und "Der Wind in den Weiden" beteiligt. Karin Hahn ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Berlin.
abends um 10
Kate de Goldi
Aus dem Englischen von Ingo Herzke, Carlsen Verlag, Hamburg 2011, 335 Seiten, �16,90
� Das war das Tolle am Schreiben und Zeichnen, fanden er und Sydney: Man konnte all die Dinge haben, nach denen man sich immer gesehnt, die man aber nie bekommen hatte. Darunter auch einfache Lösungen.�
Frankie Parsons ist ein Kontrollfreak, er ordnet seine Dinge auf dem Schreibtisch symmetrisch und Gefühlsschwankungen oder Unregelmä�igkeiten werfen ihn total aus der Bahn. Immer sorgt er sich. Er hat Angst vor einer Blutvergiftung, einem Erdbeben oder der Vogelgrippe. Er überwacht die Vorräte im Kühlschrank und könnte aus der Haut fahren, da seine nervige Schwester Gordana nicht einen Finger im Haushalt rührt. Er besorgt die Lebensmittel und muss an alles denken. Sein Vater, alle nennen ihn Onkel Georg, arbeitet viel und seine Mutter backt Torten und hat seit neun Jahren das Haus nicht verlassen. Aber Frankie hat einen besten Freund, Gigs. Beide haben sich eine Geheimsprache ausgedacht, eine Sprachmischung aus Russisch, Latein und Rückwärtsworten. Frankie hat Spa� an Sprachen und er kennt unzählig viele Vögel seiner Heimat Neuseeland. Wenn Tantenabend ist dann stöhnen alle, aber eigentlich liebt Frankie seine drei sehr dicken an allem interessierten Tanten, die am liebsten Karten spielen. Eines Tages kommt Sydney neu in die Klasse. Sie plappert pausenlos, hat Rastalocken, stellt Fragen und trägt knallbunte Sachen. Gigs ist entsetzt und kann gar nicht fassen, dass Frankie die Neue, die so ganz anders ist als er, mag. Aber Sydney kann Cricket spielen und das imponiert Gigs. Als die Klasse in ein Camp fährt, bleibt Frankie zu Hause, denn er fühlt sich für seine Mutter verantwortlich. Immer abends um 10 spricht er mit ihr über alle wichtigen Dinge des Tages. Aber er traut sich nicht zu fragen, warum sie das Haus nie verlässt. Immer wieder reden die beiden über russische Schriftsteller, denn alles Russische gefällt Frankies Mutter. Auch Sydney fährt nicht ins Camp, denn ihre alleinstehende Mutter hat das Geld vom Vater einfach ausgegeben. Bleibt Frankies Mutter immer im Haus, so zieht Sydneys Mutter mit ihren drei Töchtern von Ort zu Ort als könnte sie nie an einem für länger verweilen. Immer wieder denkt Frankie wie unterschiedlich beider Leben doch ist und er mag Sydney mehr als er zugibt. Bei ihrem gemeinsamen Buchprojekt denkt sich Sydney verschiedene Enden für ihre Geschichte aus: ein total glückliches, ein halb glückliches und ein tragisches Ende. Das findet Frankie unmöglich, er will unbedingt einen glücklichen Ausgang. Alles soll verlässlich sein, ein Chaos der Gefühle hält der Junge nicht aus. Als Frankie erfährt, dass Sydney wieder umziehen wird von Neuseeland nach Australien, ausgerechnet nach Sydney, bricht für ihn alles zusammen. Er muss endlich über all seine �ngste sprechen, aber mit seiner Mutter kann er diesmal nicht reden.
Manchmal entwickelt ein Roman einen solche Sog, dass er aufhört ein fiktionales Werk zu sein und stattdessen etwas Lebendiges wird. So ergeht es dem Leser mit �abends um 10�, wenn er in Frankies Leben mit all seinen Sorgen und Freuden eintaucht und mit dem Jungen alle Höhen und Tiefen meistert.
Eine warmherzige Geschichte voller Ernst und Witz und Menschen, die man nicht vergisst.