Jeder professionelle Rezensent erhält im Frühjahr und Herbst ganze Berge von Neuerscheinungen. Nur ein geringer Bruchteil der aktuellen Bücher wird in Zeitschriften oder Rundfunksendungen besprochen.
Im Laufe der Zeit hat sich gerade im Kinder- und Jugendbuchbereich der Anteil an rezensierten Titeln verkleinert und Kritik ist kaum gefragt.
In dieser Website soll eine Auswahl an aktuellen Büchern präsentiert werden, die der Rezensentin Karin Hahn positiv oder negativ aufgefallen sind.
Karin Hahn ist Mitglied in der Jury "Die Besten 7 � Bücher für junge Leser�. Das ist eine Bestenliste für Kinder � und Jugendliteratur, die monatlich im Auftrag vom Deutschlandfunk und Focus zusammengestellt wird.
Sie arbeitet als Journalistin für die Sender Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk, schreibt für die Leipziger Volkszeitung, die Fachzeitschrift BuchMarkt und rezensiert Kinder- und Jugendbücher, Hörbücher und Kinofilme. Als Produzentin und Regisseurin war sie an der Veröffentlichung der Hörspiele "Alice im Wunderland" und "Der Wind in den Weiden" beteiligt. Karin Hahn ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Berlin.
Cornelia Funke: Reckless � Steinernes Fleisch
Cecilie Dressler Verlag, Hamburg 2010, 347 Seiten, �19,95
Hörbuch erscheint bei Oetinger audio, gelesen von Rainer Strecker, 490 Minuten, 8 CD, �29,95
� Wir fangen uns ein Märchen.�
Die Brüder Jacob und Will Reckless, wem fallen da nicht die Brüder Grimm ein, entdecken eine Welt voller Gefahren hinter dem Spiegel in ihrer eigenen Wohnung. (Lewis Carrolls Alice oder Narnia lässt grü�en.) Als Jakob noch klein ist, wird er auf die Kraft des magischen Spiegels im Zimmer seines Vaters John aufmerksam, der sich nur dem öffnet, der sich selbst nicht sieht. John ist aus dem Leben der Familie auf unerklärliche Weise verschwunden. Immer öfter verlässt Jacob seine vertraute Welt und baut sich in der anderen, geheimnisvollen ein Leben als Schatzsucher, der z.B. das Tischleindeckdich oder den Gläsernen Schuh gefunden hat, auf. Hier herrscht die Kaiserin von Austrien und führt Kämpfe gegen die Goyl, die Steinmenschen, die sich aus den Bergen ans Tageslicht gearbeitet haben und nun technisch überlegen die Menschen besiegen. Will, der empfindsame, kleine Bruder, folgt dem gro�en und verwandelt sich durch einen Fluch der Dunklen Fee nach und nach in einen Jadegoyl. Jacob ist entsetzt, denn Menschen erschlagen ihre Familienmitglieder, denen der Stein wächst. Jacob sucht nun einen Weg, um seinem Bruder aus dieser ausweglosen Situation zu befreien. Von seiner Seite weicht Fuchs, eine Gestaltwandlerin, keinen Augenblick. Jacob hat ihr, die auch eine junge Frau sein kann, das Leben gerettet, aber sie verbindet mehr als das. Clara, die Freundin von Will, folgt durch den Spiegel ihrem Liebsten und wird zur Schlüsselfigur der Geschichte, denn die Dunkle Fee erteilt den Auftrag den Jadegoyl zu fangen. Rettung erhofft sich Jacob nun von der Schwester seiner Widersacherin, der Roten Fee.
Die Figuren agieren holzschnittartig, nach dem Gut-Böse-Schema, denn Cornelia Funke haucht ihnen kein Leben ein. So laufen die Gefährten Jacob hinterher und hoffen auf ein Wunder, das sich pünktlich auch einstellt. Natürlich thematisiert die Autorin die uralten, archaischen Sehnsüchte der Menschen, wie Unsterblichkeit, das Anhalten der Zeit, die Liebe, die alle Grenzen überwindet, die Idee unverwundbar zu sein und die Hoffnung auf eine glückliches Leben. Doch durch die blumig klingende, teils völlig sinnentleerte Sprache Cornelia Funkes und das Geflüster der inneren Gedanken Jacobs, entsteht eine unheilvolle Atmosphäre, die gepaart mit den Brutalitäten ( es wird geschossen, Kleider aus Menschenhaut gefertigt, Arme abgebissen, bei lebendigem Leib gefressen u.v.a.m.) hinterm Spiegel, von einer grausamen Märchenwelt erzählt. Die Riesen sind ausgerottet, Dornröschen verwest langsam, denn kein Prinz befreit sie, Menschenfresser wüten grausam, der Schneider mit seinen Scherenhänden schnippelt alles klein und die Vorstellung, wie ein Mensch langsam zu Stein wird, zornig und unempfindsam sich selbst verliert, ist für junge Leser keine unbeschwerte Lektüre. Aber nicht nur die Goyl verstören, die Tochter Amalie wird um des lieben Friedens willen dem König der Goyl versprochen, eine Allianz, die die Kaiserin Therese ( wer denkt da nicht an �sterreich) nicht ohne Hintergedanken einfädelt. Doch was steckt hinter dieser kriegerischen, unglaublich erbarmungslosen wie humorfreien Märchengeschichte? Wozu dient das unheilvolle Geraune, das so bedeutungsschwanger über der gesamten Handlung vor sich hin wabert? Welches Geheimnis habe ich überlesen, das gelüftet wurde?
Originell, wie jeder Leser es von Cornelia Funke eigentlich gewohnt ist, spielt sie kaum mit der furiosen Vorlage und den Topoi aus den Grimmschen Märchen. Es ist der typische Aufbau einer simplen, so altbekannten Fantasystory: jemand ist in Gefahr und muss gerettet werden, eine Gruppe gleichgesinnter Gefährten reiht sich um den Haupthelden, ein Weg voller Hindernisse muss bewältigt werden, um am Ende auf einen Sieg zuzusteuern. Hineingestellt wird die Handlung hinter dem Spiegel in das 19. Jahrhundert, eine pseudohistorische Wirklichkeit, die platt wirkt, da die Anspielungen auf wahre Figuren oder Ereignisse mit Handlung kaum etwas zu tun haben.
Soll der Leser wirklich gespannt auf die kommenden Bände sein? Eingefleischte Funke-Fans lassen sich sicher nicht von der allgemein niederschmetternden Kritik beeinflussen. Andere vermuten gleich, dass der Film folgen wird oder PC-Spiele, denn die passende Struktur dafür gibt die Handlung bereits vor.