Jeder professionelle Rezensent erhält im Frühjahr und Herbst ganze Berge von Neuerscheinungen. Nur ein geringer Bruchteil der aktuellen Bücher wird in Zeitschriften oder Rundfunksendungen besprochen.
Im Laufe der Zeit hat sich gerade im Kinder- und Jugendbuchbereich der Anteil an rezensierten Titeln verkleinert und Kritik ist kaum gefragt.
In dieser Website soll eine Auswahl an aktuellen Büchern präsentiert werden, die der Rezensentin Karin Hahn positiv oder negativ aufgefallen sind.
Karin Hahn ist Mitglied in der Jury "Die Besten 7 � Bücher für junge Leser�. Das ist eine Bestenliste für Kinder � und Jugendliteratur, die monatlich im Auftrag vom Deutschlandfunk und Focus zusammengestellt wird.
Sie arbeitet als Journalistin für die Sender Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk, schreibt für die Leipziger Volkszeitung, die Fachzeitschrift BuchMarkt und rezensiert Kinder- und Jugendbücher, Hörbücher und Kinofilme. Als Produzentin und Regisseurin war sie an der Veröffentlichung der Hörspiele "Alice im Wunderland" und "Der Wind in den Weiden" beteiligt. Karin Hahn ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Berlin.
Paula Fox: Ein Dorf am Meer
Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit, Boje Verlag, 2008, 164 Seiten, �11,95
Die 10-jährige Emma fährt von New York nach Long Island, um bei ihren Verwandten zu wohnen, die sie kaum kennt. Beatrice ist die Halbschwester ihres Vaters, der eine schwere Bypass-OP vor sich hat. Bea ist das Monster, eine unausgeglichene, egoistische Frau voller Selbsthass mit �starren Puppenaugen�, die es nur darauf anlegt, ihre Mitmenschen mitleidig zu betrachten und zu demütigen. Emma fährt mit einem unguten Gefühl los. Zum einen hat sie Angst vor Bea, zum anderen sorgt sie sich um ihren Vater. Ein Tagebuch liegt in ihrem Gepäck und wenn sie möchte, kann sie alle ihre Empfindungen und Erlebnisse für den Vater dort eintragen.
Die launenhafte Bea thront schwerfällig in ihrem Haus am Meer, löst Kreuzworträtsel, obwohl sie offensichtlich wenig wei�, schaut Fernsehen und lässt sich vor ihrem gutmütigen Mann bedienen. Sie äu�ert sich pauschal über alle möglichen Themen ohne wirkliche Kenntnisse. Bea trinkt ununterbrochen Tee, räuffelt ihre Wolle auf und erzählt Emma in vorwurfsvollem wie selbstgerechten Ton Geschichten aus der Vergangenheit, in denen sie sich als einsames Mädchen darstellt, dem einiges vorenthalten wurde. Onkel Crispin versucht zu vermitteln und die Dinge gerade zu rücken. Durch Zufall entdeckt Emma im unsauberen Badezimmer einen kleinen Plastikhirsch, eine übliche Verzierung für Brandy-Flaschen. Ein heftiger Streit entbrennt zwischen Bea und Crispin, der ihr unterstellt, dass sie wieder trinkt. Bea attackiert Emma bei jeder Begegnung. In Beas Nähe fühlt sich Emma �als sei sie von einem Schwarm Stechmücken umgeben.�
Emma entflieht dem unfreundlichen Haus und lernt Alberta, kurz Bertie, am Strand kennen und beide Mädchen beginnen aus Muscheln, Strandgras, Holz, Steinen, Tang und vielen Kleinigkeiten, die das Meer anschwemmt, eine Dorf zu bauen. Ihre Fantasie kennt keine Grenzen. Sie entwerfen eine Bibliothek, einen griechischen Tempel, Stra�en, Häuser. Das wird ihr gemeinsames Projekt � ein Dorf am Meer.
Onkel Crispin ist begeistert. Der letzte Tag kommt. Am Abend vernimmt Emma im Schlaf Schritte. Sie läuft zum Dorf am Strand und sieht, dass jemand � Bea � alles zerstört hat. Onkel Crispin versucht Emma zu trösten. Er behauptet, dass Bea auf alle Menschen neidisch ist und es sich selbst nicht verzeihen wird, was sie getan hat. Emma findet keine Worte für das, was die Tante in ihrer blinden Wut angerichtet hat. Die Mutter holt Emma ab, nachdem das Mädchen ihrer Freundin vom zerstörten Dorf berichtet hat. Bea lässt sich nicht mehr sehen. Emma freut sich auf ihr Zuhause. Von ihrem Hass auf ihre Tante erzählt sie den Eltern nichts. Als sie in ihr Tagebuch schaut, sieht sie hinter ihren eigenen Worten, die sie am ersten Tag in Connecticut geschrieben hatte:�Tante Bea ist....� Beas hinzugefügte Eintragung: � eine traurige, böse alte Frau.� In Emma löst sich der Hass gegen ihre Tante auf, denn sie kennt nun ihr Geheimnis.
Jedes wieder aufgelegte Kinderbuch von Paula Fox findet erneut reges Interesse, auch wenn �Ein Dorf am Meer� bereits 1988 erschienen ist. �Ein Bild für Ivan� ( Boje Verlag), vor gut 40 Jahren geschrieben, hat nun den Deutschen Jugendliteraturpreis 2008 in der Kategorie Kinderbuch erhalten. Keine �berraschung, denn diese stille und feinfühlige Geschichte hat seinen ganz eigenen literarischen Ton. Bereits 1978 erhielt die Autorin für ihr Werk den Hans-Christian-Andersen-Preis. Die Wiederentdeckung der heute 85-jährigen Amerikanerin haben wir dem amerikanischen Autor Jonathan Franzen zu verdanken.
Paula Fox erzählt in ihren Büchern, ob es nun um einen Bruder mit Downsyndrom geht (Paul ohne Jakob), um einen Jungen, der nicht wei�, ob er ein Tier verletzt hat (Die einäugige Katze) oder um den einsamen Ivan, der Menschen begegnet, die ihm ein gutes Gefühl geben, immer reale Geschichten aus dem Leben. Emma wird mit Tante Bea konfrontiert. In vielen anschaulichen Bildern beschreibt Paula Fox subtil und schonungslos diese verbitterte Alte, die wie in einem �Wattebausch ein Messer für jeden bereit hält�, der sich ihr nähert. Hinter einer Fassade, die Weltgewandtheit vortäuscht, verbergen sich dümmliche Arroganz und Bösartigkeit. So hängt sie sich ein Poster von Monet auf und sucht nie den Strand gleich vor ihrem Haus auf, als würde sie die Kunst dem Realen vorziehen. Die innerlich starke Emma hält sich tapfer, lässt sich von den Gemeinheiten der Tante nicht beirren und durchschaut sehr langsam das Spiel, dass die geistig wie körperlich träge Frau mit jedem treibt. Für Tante Bea scheint das Auftauchen des Mädchens aber auch Erinnerungen wachzurufen, die so angestaubt sind wie das Haus, in dem sie lebt. Ganz nebenbei wird Beas Alkoholproblem angedeutet. Die alte kindische Tante Bea ist auf ein Mädchen neidisch und wie ein Kind zerstört sie das, was der anderen so gefällt. Wie in einem Kammerspiel erfasst Paula Fox literarisch und atmosphärisch genau das Beziehungsgefüge zwischen den Personen im Haus. Emma kann fliehen, um sich mit der ein Jahr älteren Bertie ein eigenes Refugium zu schaffen. Mit Bertie schöpft sie Hoffnung und wird auf kreative Weise abgelenkt. Paula Fox hat dieses Buch nicht nur für Kinder geschrieben, es ist wie jede gute Literatur auch für Erwachsene gedacht.