Jeder professionelle Rezensent erhält im Frühjahr und Herbst ganze Berge von Neuerscheinungen. Nur ein geringer Bruchteil der aktuellen Bücher wird in Zeitschriften oder Rundfunksendungen besprochen.
Im Laufe der Zeit hat sich gerade im Kinder- und Jugendbuchbereich der Anteil an rezensierten Titeln verkleinert und Kritik ist kaum gefragt.
In dieser Website soll eine Auswahl an aktuellen Büchern präsentiert werden, die der Rezensentin Karin Hahn positiv oder negativ aufgefallen sind.
Karin Hahn ist Mitglied in der Jury "Die Besten 7 – Bücher für junge Leser“. Das ist eine Bestenliste für Kinder – und Jugendliteratur, die monatlich im Auftrag vom Deutschlandfunk und Focus zusammengestellt wird.
Sie arbeitet als Journalistin für die Sender Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk, schreibt für die Leipziger Volkszeitung, die Fachzeitschrift BuchMarkt und rezensiert Kinder- und Jugendbücher, Hörbücher und Kinofilme. Als Produzentin und Regisseurin war sie an der Veröffentlichung der Hörspiele "Alice im Wunderland" und "Der Wind in den Weiden" beteiligt. Karin Hahn ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Berlin.
Eoin Colfer: Tim und das Geheimnis von Knolle Murphy
Beltz & Gelberg Verlag
Wie wunderbar ist es, wenn Eltern fuer die Bildung ihrer Kinder noch etwas tun wollen und sich so richtig verantwortlich fuehlen. Nicht dass den Woodmans die fuenf krackelenden Jungen samt Freunden im Haus auf den Wecker gehen. Nein, Tim und Marty sollen ihre Freizeit in den Ferien sinnvoll verbringen. Zwar war der Kunstkurs ein Fehlgriff, aber die Bibliothek erkunden, ist doch eine lohnenswerte Angelegenheit, die auf keinen Fall versaeumt werden darf – so die unumstoessliche Meinung der Eltern. Die Jungen koennen dieser Ansicht kaum zustimmen, denn in der Bibliothek erwartet die Kinder keine freundliche, dauergrinsende Bibliothekarin, die sich ja so freut, wenn Jungen lesen wollen, sondern ein dickes, altes Ungeheuer mit Namen Mrs Murphy. Es kursiert die Legende, dass sie unter ihrem Schreibtisch ein Luftgewehr zu liegen hat, in dessen Lauf eine ganze Kartoffelknolle passt. Damit schiesst sie auf Kinder, Tim sagt dazu „abknollen", wenn sie Laerm in der Buecherei machen. Aus diesem Grund wird sie auch Knolle Murphy genannt. Tim und Marty koennen ihre kluge Mutter nicht austricksen, sie muessen durch die Bibliothekstuer gehen. Ein rosa Leserausweis und ein strenger Blick von Mrs Murphy verbannt die zwei auf einen Teppich vor das schmale Kinderbuchregal. Tim beschreibt aus seiner Sicht das Martyrium, das nun beginnt. Die Kinder duerfen weder den ungemuetlichen Teppich fuer die Toilette verlassen, noch irgendwelche Laute von sich geben. Knolle Murphy, bewaffnet mit ihren Stempeln, die wie Colts am Guertel postiert sind, saust auf ihren rutschigen Pantoffeln bei jedem Geraeusch sofort zum Kindergefaengnis. Marty unternimmt einen schwachen Versuch, um Knolle Murphy zu aergern. Aber die Frau, die ihre Augen und Ohren ueberall hat, erwischt ihn und sein Tag in der Bibliothek endet mit einem peinlichen gut leserlichen Stempelaufdruck auf dem Unterarm, der lautet: ICH LIEBE BARBIE. Tim und Marty schlagen die Zeit tot und tun so als wuerden sie lesen, wenn ihre Mutter sie wieder abholt. Bis ja, bis zu dem Tag, an dem ein erster Satz eines wahllos aufgeblaetterten Buches Tim in seinen Bann zieht: „ Finn McCool war der groesste Riese in Irland."
Von Anfang an ist klar, dass Tim und Marty zum Lesen bekehrt werden. Knolle Murphy ist eine literarische Figur, die scheinbar aus einem Roald Dahl –Buch, denn nur er konnte die hassenden Kinderfeinde so glaubhaft ueberzogen darstellen, in das von Eoin Colfer gesprungen ist. Und trotzdem ist die Geschichte von Tim, der nach kuerzester Zeit alle Kinderbuecher auch die lahmsten ausgelesen hat, um sich dann unter Einsatz seines Lebens in die Abenteuerliteratur - Abteilung vorzuwagen, unterhaltsam, kurzweilig und vor allem witzig geschrieben. Jungen, die gern lesen, greifen sowieso zu Colfer. Kinder, die zum Lesen angeregt werden sollen, sperrt man entweder in die Bibliothek ein oder schenkt ihnen dieses Buch!