Jeder professionelle Rezensent erhält im Frühjahr und Herbst ganze Berge von Neuerscheinungen. Nur ein geringer Bruchteil der aktuellen Bücher wird in Zeitschriften oder Rundfunksendungen besprochen.
Im Laufe der Zeit hat sich gerade im Kinder- und Jugendbuchbereich der Anteil an rezensierten Titeln verkleinert und Kritik ist kaum gefragt.
In dieser Website soll eine Auswahl an aktuellen Büchern präsentiert werden, die der Rezensentin Karin Hahn positiv oder negativ aufgefallen sind.
Karin Hahn ist Mitglied in der Jury "Die Besten 7 � Bücher für junge Leser�. Das ist eine Bestenliste für Kinder � und Jugendliteratur, die monatlich im Auftrag vom Deutschlandfunk und Focus zusammengestellt wird.
Sie arbeitet als Journalistin für die Sender Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk, schreibt für die Leipziger Volkszeitung, die Fachzeitschrift BuchMarkt und rezensiert Kinder- und Jugendbücher, Hörbücher und Kinofilme. Als Produzentin und Regisseurin war sie an der Veröffentlichung der Hörspiele "Alice im Wunderland" und "Der Wind in den Weiden" beteiligt. Karin Hahn ist verheiratet, hat einen Sohn und wohnt in Berlin.
Der Schiffsjunge
Die wahre Geschichte der Meuterei auf der Bounty
John Boyne
Aus dem Englischen von Andreas Heckmann, S. Fischer Verlag, FJB, Frankfurt a.M. 2011, 640 Seiten, �18,95
��ber uns schwebte ein Dämon, den weder die Männer noch der Kapitän beschworen hatten, sondern die beiden Geschöpfe, die einander ständig böse anfunkelten: das Schiff, das den Kapitän dauernd nach Hause rief, und die Insel, die ihr neuen Gefangenen immer tiefer in ihren Bann schlug.�
Jeder glaubt, über die Geschichte der HMS Bounty und deren meuternder Mannschaft Bescheid zu wissen, sicher auch durch den legendären Spielfilm aus dem Jahre 1962 mit Trevor Howard als gnadenlos agierendem Kapitän William Bligh und dem smarten Marlon Brando in der Rolle des schlichtenden und später die Meuterei anführenden Fletcher Christian. John Boyne jedoch präsentiert in seinem seitenstarken Jugendbuch eine neue Version der damaligen Ereignisse, und die liest sich äu�erst spannend und unterhaltsam. Der irische Autor erfindet John Jakob Turnstile, einen 14-jährigen Stra�endieb, der als Kapitänsdiener auf der Bounty nicht freiwillig anheuert. Er hat die Wahl, entweder 12 Monate Gefängnis oder die Schiffsreise nach Tahiti. Der elternlose John ist ein ausnehmend helles Köpfchen, er kann mit Sprache umgehen und Situationen schnell einschätzen. Mit dem absoluten Gehorsam hapert es anfänglich zwar etwas und sein ständiges Fragen stellen muss er sich auch schnell abgewöhnen. Mr Lewis hat dem gut aussehenden Jungen in Porthsmouth ein zu Hause gegeben, ihm beigebracht, wie er am besten Leute bestiehlt und ihn Dinge in seinem Jungenbordell tun lassen, die John nicht mehr vergessen wird. Immer wieder wird er sich schmerzlich während der Fahrt, auch bei der entwürdigenden �quatortaufe, an die dunklen Momente mit den Gentleman im Haus von Mr Lewis erinnern.
Aus Johns Sicht, den alle Turnip an Bord nennen, geht der Leser auf die aufregende Schiffsreise in die Südsee. Seine Hängematte befindet sich genau vor der Kapitänskajüte, er hört alles und nach einer bestimmten Zeit versteht er auch, was zwischen den Offizieren an Bord vor sich geht. Gnadenlos ist die Hackordnung auf dem Schiff von König Georg, rau und vulgär der Ton unter den Seeleuten. Zwischen dem Kapitän, der, und das bewegt John sehr, ihm bei seinen ersten, seekranken Tagen an Bord, geholfen hat, und seinem Stellvertreter Mr Fryer treten viele Konflikte auf, in denen es um Kompetenzen geht. Beide nehmen den gleichen Rang ein, aber Bligh ist der Kapitän. Penibel achtet er auf die Einhaltung der Ränge und reagiert extrem ungnädig, wenn er seine Akzeptanz gefährdet sieht. John erlebt, wie Mr Fryer seinen Platz verliert und Mr Christian, der Steuermannsmaat in die Rolle des Stellvertreters gehoben wird. Christian ist jedoch ein schlauer Taktiker, der sich die Schwäche anderer zu nutzen macht und nur in seinem eigenen Sinne handelt. Christian versucht auch John auf seine Seite zu ziehen, bemerkt aber dessen Skepsis. Johns Sympathie und Bewunderung gehört dem ab und zu launischen Kapitän, der aber auch mitfühlend und interessiert mit John ins Gespräch kommt. Der Schiffsjunge, dem die Mannschaft zum Teil doch misstraut, durchschaut die Handlungsweise der Männer an Bord und zieht seine Schlüsse. Hier überschätzt John Boyne seine Hauptfigur und legt ihr allzu erwachsene Wort in den Mund. Nach 308 Tagen erreicht die Bounty ihr Ziel und das Unheil nimmt seinen Lauf. Kapitän Bligh verliert auf der Insel die Kontrolle über seine Mannschaft und reagiert auf das freizügige Leben der Seeleute mit den Eingeborenen, die er als die Wilden bezeichnet, verärgert. Er scheint nicht mehr er selbst zu sein, so Johns Einschätzung, denn Bligh bemerkt nicht, dass sich innerhalb der Mannschaft die Unzufriedenheit langsam anstaut und entladen könnte. Dabei hat Bligh nur eine Prügelstrafe in dem Jahr auf See verhängt. Als drei Männer desertieren und eingefangen werden, bringt er es nicht über sich die Todesstrafe zu verhängen. Danken werden sie es ihm nicht. Als die Mannschaft der Bounty meutert, ist das Schiff mit den gesammelten Brotfrüchtepflanzen auf dem Weg nach Westindien. 19 Männer, auch John, obwohl er eigentlich ebenfalls fliehen wollte, und Mr Fryer schlie�en sich dem Kapitän an. Mit festem Willen und seiner Erfahrung als exzellenter Kartenzeichner gelingt den ausgesetzten Seeleuten nach 48 Tagen das Anlaufen einer Insel, auf der sie Hilfe erwarten können. Tagebuchartig hält John fest, wie die Männer, nicht alle, den Kampf gegen Hunger, Durst und Angst durchstehen. Aus John wird ein Mann und die Fahrt mit der Bounty verändert sein Leben grundlegend.
Ohne zu sehr in die Details zu gehen, erzählt John Boyne in seinem Jugendroman spannend und vor allem immer auf Augenhöhe mit dem Leser von einer legendären Seereise mit tragischem Ausgang. Eine aufregende Lektüre für Jugendliche, die mit den Missbrauchsszenen, die der Schiffsjunge schildert, umgehen können. Keine Lektüre für Kinder!