Kirsten Boie: Ringel, Rangel, Rosen

Kirsten Boie: Ringel, Rangel, Rosen, Oetinger Verlag, Hamburg 2010, 200 Seiten, €14,95

„Feiglinge. Alles Feiglinge.“

Unscheinbar sieht dieses Jugendbuch aus und kaum beworben, sollte es in den Novitätenangeboten des Frühjahrs nicht untergehen, zumal die bekannte Hamburger Autorin Kirsten Boie in diesem März ihren 60. Geburtstag feiert.

Die Handlung beginnt im Sommer 1961. Karin wohnt glücklich mit ihrer Familie in den Behelfsheimen an der Elbe hinter dem Deich. Dünnwandig sind die Häuschen, schön die Gärten. Karins Freundin Regina erzählt von einem Buch, in dem es um die Juden und deren Vernichtung in der Nazizeit geht. Karin kann gar nicht glauben, dass solche Dinge geschehen sind. In Berlin wird die Mauer gebaut, Adolf Eichmann in Jerusalem der Prozess gemacht. Doch nichts davon ist Gesprächsthema in Karins Familie. Immer wenn ihre Eltern vom Krieg erzählen, dann dreht sich alles um Karins Vater, der als Soldat dienen musste und die Grausamkeiten des Krieges. Doch so schnell wie dieses Thema auflodert, so schnell schweigen Karins Eltern auch. Wenn sie Fragen stellt, dann weichen die Eltern aus und behaupten, niemand könne sich ein Urteil erlauben, der diese Zeit nicht miterlebt hätte. Atmosphärisch dicht fängt Kirsten Boie diese kleinbürgerliche Enge von Karins Elternhaus ein. In kurzen Dialogen zeichnet sie ein Bild, der Generation, die angeblich von nichts gewusst hatte und doch einem Hitler auf den Leim gegangen ist. Hinter der Kollektivschuld verstecken sich auch Karins Eltern und reflektieren kaum ihr eigenes Verhalten oder gar politische Zusammenhänge. Mit Politik wollen sie auch nichts mehr zu tun haben. Lieber versammeln sich alle um den Fernseher und schauen „Familie Hesselbach“. Als dann die große Flut im Februar 1962 die Häuser hinwegschwemmt, beginnt das große Bangen, denn Karins Vater ist auf dem Weg zur Arbeit, die Mutter sucht den kleinen Bruder und Karin hofft mit ihrer alten Nachbarin auf dem Dach des Hauses auf Rettung. Den alten Kinderreim „Ringel, Rangel, Rosen“ spricht Karin wie ein beruhigendes Gebet vor sich hin, um nicht an das Schlimmste zu denken. Aus dem Haus kann das Mädchen nur die Notfalltasche der Mutter mit einem Fotoalbum retten. Darin findet sie Bilder vom Vater, die sie zweifeln lassen, ob die Familie wirklich so unwissend wie unschuldig die Jahre des Kriegs erlebt hat. Mit der Flut und den materiellen Entschädigungen für die Familien setzt Karins Abnabelungsprozess von den Eltern ein. Sie beginnt sich gegen die leeren Sprüche der Mutter zu behaupten und sucht nach eigenen Wegen.

Kirsten Boie erzählt im Präsenz, aber auch in Rückblicken äußerst spannend und psychologisch überzeugend. Sprachlich präzise fängt die Autorin die Zeit ein und spiegelt die Konflikte, die später auf den Straßen austragen werden. Und sie lässt dem Leser viel Raum für eigene Assoziationen und gibt keine vorschnellen Antworten. Ein stilles, dabei so kraftvolles Buch, ein Zeitdokument und eine Entwicklungsgeschichte.